Über die Lage der Schiiten in Deutschland und die erhoffte Erlösung
Wenn man bei seinen Aktivitäten ausgehend von einem Idealismus und gerüstet mit dem Optimismus des Islam Projekte verwirklichen will, darf man den realen Blick für die Dinge nicht verlieren und muss die richtige Motivation aus der richtigen Quelle schöpfen.
Alle Religionen glauben daran, dass eines Tages der Erlöser erscheinen wird. Über die Gründe, warum er noch nicht da ist, gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Aber es scheint fast so, dass bei allen Religionen und auch allen Konfessionen die mehr oder minder gleichen Gründe vorliegen: Die Menschen scheinen noch lange nicht bereit für eine Erlösung. Dies soll am Beispiel der Schiiten in Deutschland einmal dargelegt werden.
Nach offiziellen Angaben gibt es ca. 5 Millionen Muslime in Deutschland. Ich bin zwar der festen Überzeugung, dass es viel mehr sind, möglicherweise doppelt so viele, aber nehmen wir dennoch dieses niedrige Zahl als Basis einer Betrachtung. In der Regel geht man weltweit von ca. 20% Schiiten aus. Wir wollen hier (um immer auf der sicheren Seite der Betrachtung zu sein) von nur 10% Schiiten ausgehen, also ca. 500.000 Schiiten in Deutschland. Die Jugend überwiegt zahlenmäßig bei den Muslimen, so dass falls wir die Altersgruppen in gleich große Gruppen zweiteilen in „Ältere“, die weniger gut deutsch sprachen, und „Jüngere“, die hier groß geworden sind und gut deutsch sprechen, ca. 250.000 gut deutsch sprechende Schiiten übrig bleiben. Wenn wir nun davon ausgehen, dass bedauerlicherweise nur 20% dieser Schiiten praktizierende Muslime sind (der Anteil ist bewusst untertrieben angenommen), dann wären das immerhin 50.000 praktizierende Schiiten in Deutschland. Obwohl der Befehl „lies“ im Heiligen Qur’a die erste Offenbarung ist und das Lesen von Büchern im Islam einen enorm hohen Stellenwart hat, nehmen wir dennoch an, dass gerade einmal die Hälfte dieser jungen, gut deutsch sprechenden und praktizierenden Schiiten Bücher lesen. Immerhin wären das 25.000 schiitische Leser. Welches Buch nach dem Heiligen Qur’an würde ein Schiit wohl lesen, wenn es das Buch in deutsche Sprache gäbe? Zweifelsohne gehört Nahdsch-ul-Balagha dazu, die bekannteste Sammlung der Predigten, Briefe und Aussprüche Imam Alis (a.), der darin auch das Leben des Propheten (s.) beschreibt. Eine Auflage von 25.000 wäre zwar gemessen an deutschen Bestsellern ein Witz, aber für ein religiöses Werk wäre das sicherlich eine ansehnliche Menge. Doch was glaubt Ihr, wie oft das Buch in deutscher Sprache seit dem ersten Erscheinen vor sage und schreibe fast 10 Jahren verkauft wurde? Keine 2000 Mal und es ist der Bestseller in einem bekannten islamischen Verlag mit Büchern der Schia.
Bei einer Zeitschrift, die ebenfalls in dem Verlag erscheint, wurde zuletzt ein Aufruf gestartet, dass die Zeitschrift wohl eingestellt wird, wenn nicht mindestens 60 neue Abonnenten dazu kommen. Es haben sich immerhin 6 neue Abonnenten gemeldet (einer davon hat gleich 10 Stück bestellt). Gott lohne jeden Einzelnen von ihnen, aber das sind Realitäten, die berücksichtigt werden müssen. Diese Fakten werden hier nicht erwähnt, um irgendwen zu entmutigen. Ganz im Gegenteil! Die Situation heute ist weitaus besser als noch vor 10 Jahren oder gar 40 Jahren vor der Islamischen Revolution im Iran! Doch jeder, der z.B. falsche Vorstellungen von den Einnahmen eines solchen Verlages hat, jeder der denkt, man könne mit dem Verfassen oder Übersetzen eines Buches reich werden, jeder, der gleich mehrere tausend Bücher verlegen will, muss sich darüber im Klaren sein, dass seine Vorstellungen bezüglich der Schia in Deutschland möglicherweise zu optimistisch sind. Ähnlich sieht es bei der Befolgung des Imam aus. Ähnlich sieht es bei der Ablehnung von Nationalismus aus, obwohl der Islam Nationalismus und Rassismus zutiefst verachtet usw. usf.
Was hier am Beispiel der Schia aufgezeigt wurde, kann wohl für alle anderen Religionen und Konfessionen in ähnlicher Weise übertragen werden. Das Potential der Religionsgemeinschaft wird nicht zum Bruchteil ausgenutzt. Der Unterschied zwischen den christlichen und den muslimischen Konfessionen diesbezüglich aber ist: Bei den Christen wird es jedes Jahr schlimmer, wohingegen die Zahl der praktizierenden Muslime in Deutschland beständig steigt – wenn auch langsamer, als unsereins es sich erhoffen würde.
Dieses langsame Wachstum birgt gewisse Gefahren. Immer wieder versuchen die aus London agierenden Abtrünnigen durch ihre Sender und Agenten die Schiiten in Deutschland zu Aktionen zu bewegen, die sowohl ihnen selbst als auch der Schia, den Muslimen im Allgemeinen und allen Bürgern schaden. Schiiten, die weder vernünftig deutsch sprechen noch sich in Bücher vertiefen, und schon gar nicht in tiefsinnige schiitische Bücher, laufen halbnackt durch deutsche Straßen, schlagen sich blutig und erwecken bei Passanten den Eindruck, dass sie gegen Folter demonstrieren würden. Sie erzeugen mehr Ratlosigkeit, Verwirrung und Abstoßung als Interesse. Sie haben nicht nur keine Ahnung von dieser Gesellschaft, sondern auch nicht vom Islam und schaden damit allen Beteiligten. Wenn sie schon diese absurden – inzwischen von allen großen Gelehrten verbotenen – Riten praktizieren wollen, wer bewegt sie dazu, das in der Öffentlichkeit zu tun? Die Feinde des Islam und der Muslime haben schon immer auf ihre Söldner gebaut, die Ignoranten zu sehr schändlichen Handlungen bewegen konnten, im Extrem zu dem Verbrechen der IS. Der Schaden durch Ignoranz und Fanatismus kann viel größer ausfallen, als derjenige durch reine Feindschaft.
In dieser Lage ist es unsere Aufgabe, uns noch intensiver um die Eigenerziehung zu kümmern. So sehr der Dialog mit Andersgläubigen zu begrüßen und ggf. fortzusetzen ist, so sehr ist die Erziehung der eigenen Reihen von großer Bedeutung. Gerade die Jugend muss gebildet werden. Bildung ist ein islamischer Wert! Öffentliche Auftritt mit politische Größen des Landes mögen für den einen oder anderen Funktionär reizvoll erscheinen – einmal abgesehen davon, dass so etwas auch zum Schaden des Islam und der Muslime führen kann – aber wirklich helfen tun solche Aktionen der Jugend nicht. Wir müssen uns gegenseitig erziehen zur Aufrichtigkeit und dazu, nützliche und hilfsbereite Bürger der Gesellschaft zu sein. Unsere Anwesenheit muss die gottesehrfürchtigen Menschen erfreuen und unsere Abwesenheit sie traurig machen. Vor unserer Anwesenheit müssen Unterdrücker sich fürchten, weil wir keine Angst vor ihnen haben und die Wahrheit mit wahrhaftigen und friedvollen Mitteln aussprechen und dabei auch im Oberkörper angezogen sind. Wer mit uns zusammen kommt, muss an sein Lebensziel erinnert werden, die Liebe Gottes zu empfangen. Dabei müssen wir gar nicht die gesamte Menschheit retten! Es genügt, wenn wir eine einzige Seele retten, und jene Seele unsere eigene ist.
Gestern Abend hatte ich beim Fitr-Fest-Empfang in der Delmenhorster Markthalle zwei überraschende Begegnungen. Zum einen erhielt ich die Gelegenheit, Bischof Aydin von der syrisch-orthodoxen Kirche persönlich kennen zu lernen. Dieser sehr weise und gelehrte Mensch hat meiner Wenigkeit über eine halbe Stunde gewidmet und wir hatten sehr fruchtbare Gespräche, die inschaallah in zukünftige Dialoge münden können; er spricht gut deutsch. Während des Gesprächs bemerkte ich aber, dass an anderer Stelle im Raum sich eine kleine Ansammlung von bekannten Gesichtern zusammen getan hatte und die ganze Zeit auf mich starrte. Ich habe mich nicht beirren lassen und das Gespräch mit dem Bischof so lange fortgesetzt, bis er sich von sich aus verabschiedet hat. Der Friede sei mit ihm und seiner Gemeinde. Daraufhin wurde ich auch schon von der Gruppe gerufen, ich müsse doch dringen dazu kommen. Ein junger Deutscher hatte sich ganz offensichtlich schon lange mit dem Islam beschäftigt und wollte die Ansammlung der bekannten Muslime der Stadt dazu nutzen, öffentlich sein Glaubensbekenntnis abzulegen. Dazu sollte auch meine Wenigkeit dazu kommen und bei der Zeremonie einige passende Worte von mir geben. Die Szenerie war wunderschön und er hat sich vor vielen Zeugen zum Islam bekannt. Er war dabei sehr aufgeregt und bewegt. Möge er seinen Weg zur Annäherung an die Liebe Gottes immer weiter gehen inschaallah.
Doch meine Wenigkeit hat hinterher überlegt, was da eigentlich geschehen ist. Erst gab es eine Rede des Oberbürgermeisters, dann haben Vertreter der Kirchen gesprochen, dann der Vertreter der jüdischen Gemeinde, der sich offen zum Zionismus bekannt und immer wieder antizionistische Muslime öffentlich angreift und sogar faktisch verleumdet, dann sprachen die „Oberen“ der muslimischen Gemeinden und in der Ecke saß ein junger Deutscher, der die ganze Zeit darauf gewartet hat, dass die Reden ein Ende nehmen, damit er sein Bekenntnis ablegen kann. Und er war wirklich aufgeregt und innerlich aufgewühlt, als er sein Bekenntnis abgelegt hat.
Der Grund, warum ich dieses gestrige Ereignis an den Schluss dieser kritischen Betrachtung stelle, liegt darin, dass wir einen großen Fehler machen, wenn wir uns auf die „Oberen“ konzentrieren. Den Verantwortungsträgern im Land kann man zuweilen einen Brief schreiben und sie darauf hinweisen, dass ganz andere vor ihnen schon viel größere Macht hatten und viel größere Verbrechen und Unterdrückungen mitgetragen haben und alle gleichermaßen unter der Erde liegen. Man kann sie darauf hinweisen, dass ihre gesamte Politik eine Heuchelei zum Schaden der Menschheit ist. Aber der „Kleine“ in der Ecke, der auf uns wartet, den dürfen wir nicht übersehen! Er ist es, den Allah uns schickt. Und wenn wir die Augen öffnen, werden wir viele solche Menschen treffen, denen zu helfen, Allah uns als Seine Gnade schenkt.
Dann spielt es keine Rolle, wie viele wir sind, wie viele Bücher verkauft und gelesen werden, wie viele Menschen zum Quds-Tag mobilisiert werden können usw.. Denn Allah schenkt Erlösung des Herzens an jedem Tag, wenn wir es nur sehen wollen. Es spielt keine Rolle, wie viel die anderen lesen, sondern wie viel ich lese ist zu hinterfragen. Ist das genug? Es spielt keine Rolle, wie viele beim Quds-Tag mitdemonstrieren, sondern mein eigenes Verhalten dabei ist zu hinterfragen: Habe ich genug Konstruktives beigetragen? Es spielt keine Rolle, wie sehr sich die anderen Menschen bilden, sondern meine eigene Bildung und Bereitschaft zur Lehre ist zu hinterfragen. Lerne und lehre ich genug? Es spielt keine Rolle, wie viele Menschen Imam Chameen’i unterstützten – Gott sei Dank sind es sehr viele – sondern meine Wenigkeit ist zu hinterfragen: Was habe ich heute für den Imam getan und gestern? Wenn es z.B. heißt, dass das Paradies unter den Füßen der (eigenen) Mutter liegt, dann ist davon auszugehen, dass auch andere Erlösungserscheinungen nicht weit von diesem Boden entfernt sind, dem Boden auf den wir uns niederwerfen, den Boden, in den wir begraben werden, den Boden, der uns daran erinnert, dass wir nicht äußerlich abheben. Nur derjenige, der sich dem Fußvolk widmet, derjenige, der sich der Graswurzelbewegung anschließt, derjenige, der sich demütig niederwirft, kann die Himmelfahrt genießen. Und wenn die Zeit reif ist, dann wird der Erlöser auch kommen – inschaallah.