Gedanken zu Ghadir an Geschwister im Glauben und in Menschlichkeit
Zunächst einmal gratuliere ich allen zum morgigen Ghadir-Fest [1]. Der folgende Text ist nicht nur an diejenigen gerichtet, die ohne nachzuschlagen wissen, was das Ghadir-Fest ist, sondern auch an diejenigen, die Allah, seinen Propheten, Imam Ali und vieles andere noch wenig kennen. Es ist ein Text zum Nachdenken über das eigene Dasein und Bestreben, für mich selbst und für den Leser.
Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen. Die Hungertoten nehmen genau so zu wie die Zahl der Flüchtlinge, die inzwischen einen historischen Rekord erreicht hat [2]. Die Kriegstrommeln werden überall in der Welt lauter geschlagen von der Südgrenze der USA über Europa und Russland bis hin nach China. Israel weitet sich immer weiter aus und intensiviert seine Apartheidsbestrebungen. Immer mehr Menschen, die als Wahnsinnige oder völlig inkompetent eingestuft werden können, regieren die Welt. Der weltweite Handelskrieg erreicht neue Dimensionen gepaart an ein westliches Finanzsystem, das vor dem Kollaps steht. Viel übler könnte die Lage kaum sein, so ist die Vorstellung mancher, aber es ist noch viel Schlimmeres zu erwarten, denn das weltliche Kapitalimperium wird seine Macht mit allen Mitteln zu verteidigen suchen.
In solch einer Welt ist Imam Ali (a.) das Vorbild der Stunde. Er hat vorgelebt, dass Menschlichkeit nicht von den äußeren Umständen abhängig ist, sondern ausschließlich vom eigenen Herzen. Nur wer sich selbst erzieht, kann jene höchste Stellung der Menschlichkeit erreichen. Nachdem Imam Ali (a.) vom Propheten in der Nähe des Brunnens Ghadir Chumm zum Nachfolger ernannt worden ist, haben die finanzstarken Mächte der Zeit jenes Mandat unterlaufen. Doch wie hat Imam Ali (a.) reagiert? Hat er mit aller seiner Macht einen Aufstand riskiert und die damalige neu in Entwicklung befindliche islamische Zivilisation geschwächt, oder hat er selbst die Tötung seiner geliebten Ehefrau durch die damalige irdische Macht ertragen? Hat er die Hilfeangebote einiger Unrechtsanführer angenommen, um an sein Recht zu kommen, oder hat er sie zurückgewiesen, da Wahrheit niemals Methoden der Falschheit anwendet? War sein Wirken ergebnisorientiert oder zielorientiert?
Letzte Frage mag einige erstaunen, denn fast scheint es ein Wortspiel. Aber in Wirklichkeit stecken Welten zwischen den Begriffen im hiesigen Kontext. War Imam Ali erfolgreich? Nach irdischen Maßstäben würde man antworten: „Nein“. Er konnte weder die Gesellschaft hinreichend läutern, noch die Muslime hinreichend retten, dass sie nicht wenige Jahre nach ihm den Enkel des Propheten im missbrauchten Namen des Islam massakrieren. Nicht einmal sein eigenes Leben konnte er bewahren, nach irdischen Maßstäben ein totaler Misserfolg. Noch schlimmer traf es Imam Hasan nach ihm, der von der Gesellschaft zu einem Friedensabkommen mit einem Verbrecher genötigt worden ist. Zwar konnte er den Vertrag so gestalten, dass die Nachwelt dadurch aufgeklärt worden ist, aber er selbst verlor in diesem Zusammenhang sein Leben. Und nach ihm verlor Imam Husain (a.) nicht nur sein eigenes Leben, sondern 18 Verwandte und mehrere Dutzende treue Gefährten, die menschlichsten Wesen, die damals auf Erden gewandelt haben!
Haben Imam Ali, Imam Hasan und Imam Husain unterschiedlich gehandelt? Imam Chamenei sagt nein: Sie sind wir ein und derselbe Mensch in unterschiedlichen Körpern zu unterschiedlichen Zeiten unter unterschiedlichen Umständen. Aber sie sind jeweils die Krönung der Menschlichkeit und jeder von ihnen hätte in der Rolle des anderen nicht anders gehandelt als gehandelt worden ist. „250-jähriger Mensch“ ist das Konzept, das Imam Chamenei vorstellt [3]. Hintergrund dieses Konzeptes ist nicht das Ergebnis, sondern das Ziel. Wenn Imam Husain ergebnisorientiert gewesen wäre, dann hätte er nach Indien auswandern können. Aber er hat zielorientiert gehandelt, unabhängig davon, wie das aktuelle Ergebnis – wir können sagen Zwischenergebnis – sein wird.
Im Heiligen Quran heißt es dazu (3:185) „Jede Seele wird den Tod kosten. Und erst am Tag der Auferstehung wird euch euer Lohn in vollem Maß zukommen. Wer dann dem Höllenfeuer entrückt und in den Paradiesgarten eingelassen wird, der hat fürwahr einen Erfolg erzielt.“
Das unausweichliche Ziel eines Menschen im Diesseits ist sein Ableben. Es spielt keine Rolle, ob er an Gott glaubt oder nicht, am Ableben ist niemand davon gekommen. Wer mit diesem Wissen zielorientiert lebt, bereitet sich auf sein Ziel vor. Imam Chamenei nennt dazu einen Dreistufenplan: 1. Keine Sünden begehen, 2. Die Pflichten erfüllen, 3. Die eigene Moral vervollkommnen. Der dritte Aspekt zeigt, der Weg ist das Ziel: Führe uns auf dem zielorientierten Weg! Und jener Weg heißt Liebe. Erst wenn die Liebe Einzug erhält im Herzen des Menschen, eröffnen sich ihm Welten, die den weniger liebenden verschlossen sind.
Solch ein Mensch sieht in der Sonne nicht irgendwelche Strahlen, die ihn wärmen oder Licht spenden. Er sieht die Spiegelung des Angesichts Fatimas, deren Zahra-Gesicht so hell strahlt, dass er es nicht ansehen kann. Er sieht die Tochter des besten aller Menschen und weiß, dass selbst der beste aller Menschen nur die Spiegelung des Gotteslichtes ist. Solch ein Mensch sieht einen Berg und weiß, welch versteinerte Seele sein Herz belasten kann und versucht Berge zu versetzen! Er sieht den Mond in der Nacht, der selbst der finsteren Nacht einen Lichtglanz schenkt, wie es Imam Ali in der Finsternis seiner Zeit versucht hat. Er sieht die stürmische See und hofft auf der Arche der Erlösung den richtigen Kapitän gewählt zu haben. Er hört die Trauergesänge um Imam Ali (a.) [4] als Vorbereitung zu Aschura und seine Tränen wischen die dunklen Flecken von seinem Herzen und lassen das Licht Gottes erstrahlen. Das Licht Gottes strahlt nicht durch irgendeinen Zwischenerfolg, sondern durch das Ziel, das man nicht aus seinen Augen verliert. Die Wahrheit ist immer seit Kain und Abel von blutigen Mündern ausgesprochen worden, aber Erfolg hatten nie die Unterdrücker.
Das Fest von Ghadir ist eine neue Chance für uns, in uns zu gehen und das Ziel vor unseren Augen neu zu justieren. Besuchen wir die Gräber auf den Friedhöfen, dann erinnern wir uns an das Ziel. Wir sind nicht erschaffen für ein Leben von wenigen Dutzend Jahren! Wir sind erschaffen für die ewige Glückseligkeit. Ghadir ist eine Erinnerung daran, kurz bevor der beste aller Menschen dahinscheidet. Doch viele Jahre zuvor – Imam Ali (a.) war gerade einmal 10 Jahre alt – hatte der Prophet ihm bei der Einladung der Quraisch bereits zu seinem Nachfolger erklärt. Und zwischen den beiden Ereignissen gibt es Dutzende anderer Ereignisse, in denen das geschah. Das besondere an Ghadir ist: Der Prophet (s.) verabschiedet sich selbst von dieser Welt aber sein Ziel für diese Welt gab er nicht auf, dass die Menschen Paradies auf Erden schaffen zusammen mit dem Erlöser. Jede Blume, die blüht, zeigt, dass das Paradies auf Erden möglich ist, aber sie zeigt auch, dass die Erde vergänglich ist.
Die Selbsterziehung ist der Schlüssel zu der Glückseligkeit in beiden Welten. Wohl dem, der erkennt, dass auch diese Selbsterziehung eine Gnade desjenigen ist, der uns beschenkt. Wenn wir keine Sünden begehen, unsere Pflichten erfüllen und unsere Moral vervollkommnen, so können wir dem Schöpfer allen Seins damit NICHTS geben. Vielmehr ist unsere Vervollkommnung Seine Gnade, für die er uns zudem belohnt. Wie absurd denkt ein Mensch, der denkt, er könne selbst etwas bewirken. Aber mit dem Geist Gottes in seinem Herzen, den jeder in sich trägt, kann er die Welt verändern, wenn er sich hingibt. Und Hingabe [taslim] ist ein Derivat von Islam, wie auch Frieden [salam], den das Herz findet, wenn sein Ich im Gleichklang schlägt mit Geist Gottes in seinem Herzen! Und die beste Hingabe ist zusammen mit dem Sayyid Ali seiner Zeit!