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Afghanistan-Desaster oder Islam-Ahnungslosigkeit?

#1 von Yavuz Özoguz , 17.08.2021 09:55

Afghanistan-Desaster oder Islam-Ahnungslosigkeit?

Die Flucht westlicher Truppen aus Afghanistan verlief derart desaströs, dass selbst die eigenen Medien das nicht mehr kaschieren können. Die Neue Züricher Zeitung stellt fest und fragt: „Zwanzig Jahre hat der Westen an Afghanistan gebaut. Innert Tagen bricht alles zusammen. Wie konnte das passieren?“ [1] All jenen „Afghanistan-Experten“, die zuvor die Bundesregierung dazu gedrängt haben, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen, faseln jetzt vom „Totalversagen der Bundesregierung“ [2]. Und Telepolis stellt fest: „Nichts war gut in Afghanistan. Niemals.“ [3] So blieb Bundesaußenminister Maas auch nichts anderes übrig als zuzugeben, dass man die Lage völlig falsch eingeschätzt habe [4].



Hintergrund dieser desaströsen Fehleinschätzung waren die Informationen der Geheimdienste und sogenannten Experten. Der Vorsitzende des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Bundestags hat nach der Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan Konsequenzen gefordert [5]. Allerdings konzentrieren sich seine Vorschläge lediglich auf einen Umbau der Strukturen und gehen völlig an den eigentlichen Ursachen des deutschen Desasters vorbei! Denn der wahre Hintergrund des Desasters und der völligen Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan (und in anderen Ländern) hängt mit dem inzwischen übermächtigen Islam-Hass in der Bundesregierung, in der Opposition, in den Geheimdiensten und den sogenannten Experten zusammen! Um das zu verstehen, bedarf es einer Analyse dieses weit verbreiteten Islam-Hasses und der Auswirkungen.

Historisch betrachtet ist Deutschland absolut kein Land des Islam-Hasses gewesen. Nachdem das Trauma der Osmanen vor Wien überwunden war, gab es in Deutschland Entwicklungen, die historisch bedeutsam waren, aber bedauerlicherweise weder im Schulunterricht behandelt werden noch im Nationalbewusstsein vorhanden sind. So gilt z.B. Goethes West-Östlicher Divan als Meisterwerk des Islamverständnisses der deutschen Literaturgeschichte [6]. Der zweite jemals gedruckte Quran, wurde in Hamburg gedruckt [7]. Jahrhunderte zuvor hatte Friedrich Eberhard Bonsen eine Übersetzung des Heiligen Quran ins Deutsche erstellt, die er mit zwölf Gebeten der Zwölf Imame ergänzt hat, ein Werk, über das die meisten Muslime der Welt zu der Zeit nicht verfügten [8]. Und Friedrich Rückert hat Gedichte über Imam Ali geschrieben, wie „Die Pforte der Weisheit“ [9], für die ihn viele Muslime beneidet hätten, hätten sie davon erfahren. Rückert übertraf sich selbst mit dem Gedicht „Der verkannte Wohltäter“ [10] als er als erster Deutscher ein Gedicht über den Sohn Imam Husains schrieb, der Kerbela und Aschura überlebt hat: Imam Zayn-ul-Abidin. Das Grab des großen deutschen Orientalisten Hammer-Purgstall ist heute noch ein Minimuseum des Islam [11] auch wenn viele Wiener das gar nicht wissen. Und nur wenige wissen, dass das wohl eindrucksvollste Museum Istanbuls, das Istanbuler Museum für Geschichte der Wissenschaft und Technik im Islam, mit Hilfe des Instituts für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften der J.W.Goethe Universität in Frankfurt eingerichtet worden ist [12].

So lässt sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft Deutschland ein Islam-Experte nach dem anderen finden, der den Islam zumindest halbwegs verstanden hat und den Entscheidungsträgern damit konstruktiv dienlich sein konnte. Die wohl mit Abstand berühmteste unter ihnen war Frau Prof. Annemarie Schimmel – Gott habe sie selig [13]. Sie wurde als erste Frau und zudem Nichtmuslima 1954 an die Islamisch-Theologische Fakultät der Universität Ankara berufen. Im Laufe ihres Lebens wurde sie mit so vielen Preisen überzogen, dass es Bücher füllen würde, sie alle aufzuzählen. Kein geringerer als Bundespräsident Roman Herzog sprach die Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an sie [14]. Und der Bundespräsident ließ es sich nicht nehmen, diese von Muslimen wie Nichtmuslimen anerkannte Persönlichkeit auf seine Reisen in muslimische Länder mitzunehmen als Expertin und Ratgeberin. Doch bereits zu ihren Lebzeiten zeigte sich ein Wandel im Islam-Verständnis in Deutschland. So hat die sogenannte Frauenrechtszeitschrift Emma Frau Prof. Annemarie Schimmel in die Nähe von „Fundamentalisten“ gerückt [15].

Dieser Wandel vollzog sich so schnell wie der Wandel vom Feindbild Sowjetunion, die es nicht mehr gab, in des neue Feindbild Islam. Der westlich-kapitalistische Imperialismus kann ohne Feindbild nicht existieren. Eine Welt mit Frieden und Gerechtigkeit wäre der Todesstoß für die Westliche Welt mit ihrem Gelddruckraubzug. Der Wandel vollzog sich in historisch unglaublicher Geschwindigkeit. War es z.B. früher üblich, dass in Talkshows oder Diskussionsrunden zumindest ein Alibi-Muslim, ein einziger Vertreter einer diametral anderen Meinung gegen fünf bis sechs Vertreter der westlichen Einheitsmeinung sprechen durfte, so gibt es das heute nicht mehr. Sogenannte „Experten“ sprechen über Islam, ohne einen Vertreter der islamischen Befreiungstheologie zuzulassen. Sogenannte „Experten“ diskutieren über die Islamische Republik Iran, ohne einen einzigen Anhänger der Islamischen Republik anhören zu wollen. Sogenannte Verfassungsschützer [16] wüten über islamische Zentren, ohne jemals deren Gesprächsangeboten angenommen zu haben. Die islamische Kleidung der Frau, das Beten und Fasten, alle islamischen Riten werden angegriffen, ohne einem kompetenten Anhänger der Riten eine ernsthafte Chance zu geben, den Sinn zu erläutern. Fast alle heutzutage in den Medien auftretende „Islam-Experten“ sind faktisch Islam-Hasser teils mit Professorentitel. Die wenigen Hochschullehrer, die zumindest ein Minimum an Islam-Verständnis haben könnten, verkriechen sich hinter ihren Lehrstühlen, da sie sonst der massiven Kritik einer radikal-zionistischen Presselandschaft ausgesetzt werden würden.

Damit ist auch der Kern des Problems benannt. Die sogenannten Antisemitismusbeauftragten Deutschlands, die allesamt eigentlich Zionismus-Beauftragte genannten werden müssten, werden niemals dulden, dass ein gläubiger praktizierender Muslim mit Sprachgewalt in irgendwelchen Medien auftritt. Denn zu den obersten muslimischen Tugenden gehört Gerechtigkeit, ein Wert, den die Westliche Welt so sehr scheut, wie der Teufel das Weihwasser. Denn wer sich für Gerechtigkeit einsetzt, wird sich unweigerlich gegen den Zionismus stellen und die Verbrechen Israels anprangern, er wird fast acht Jahrzehnte Besatzung verurteilen, er wird sich gegen die zionistische Apartheidpolitik äußern. Er wird die Raubzüge von Kolonialsiedlern verurteilen. Zudem wird er fragen, warum die Westliche Welt so grausam gegen die Islamische Republik Iran ist, den Irak in Schutt und Asche gebombt und Afghanistan verwüstet hat, den Jemen verhungern lässt und in Syrien Terroristen unterstützt usw. usf., und gleichzeitig die despotischsten Königshäuser in der muslimischen Welt unterstützt, die die eigenen Bevölkerungen brutal unterdrücken. Alle diese Fragen sind nicht im Interesse des Zionismus und dürfen nicht gefragt werden. Denn das Interesse des Zionismus steht in Deutschland inzwischen an oberster Stelle!

Die Folge ist, dass ausschließlich „Experten“ mit Islam als Feindbild zu Wort kommen. Und nur Journalisten, die den Islam hassen, werden in die Länder der Muslime geschickt. Sie „befreunden“ sich dort mit der Minderheit von Westanbetern an und berichten deren Bild des Landes nach Deutschland. Die Geheimdienste greifen unter anderem darauf zurück. Sie haben ja auch keine andere Wahl, denn praktizierende Muslime würden doch mit niemandem kooperieren, der vor allem zum Ziel hat, seinen Glaubensgeschwistern Schaden zuzufügen. Ein vernünftiges Miteinander zum Schutz der eigenen Heimat Deutschland scheint bei der aktuellen Ausgangslage ausgeschlossen, obwohl praktizierende Muslime eigentlich Lokalpatrioten sind.

So werden die angeblich 300.000 afghanischen Soldaten, die der Westen angeblich ausgebildet hat, mal eben ohne ernsthafte Ggenwehr von nur 70.000 Taliban überrannt und der Westen kann nur staunen. So wird die Bevölkerung der Islamischen Republik Iran sich auch weiterhin für die Befreiung Palästinas mehr einsetzen als für Frauenfußball im Land und deutsche Frauenrechtlerinnen können sich nur wundern. So werden sich sogenannten Menschenrechtsorganisationen im Westen für einen Ringer im Iran einsetzen, weil sie glauben, dass alle Iraner wegen seiner Verurteilung trauern und im Iran kennen ihn nur diejenigen, die die Nachrichten vom Westen verfolgen [17].

Das Desaster der deutschen Anti-Islam-Politik hat nicht nur Auswirkungen in der Gegenwart. Schon jetzt hat Deutschland für die Zukunft weitere Desaster vorbereitet. Einige korrupte Politiker im Irak, die heute noch mit westlicher Hilfe an der Macht gehalten werden, werden morgen verjagt. Dann wird man sich fragen, was haben die Deutschen eigentlich im Land gemacht? Haben sie die Einheit des Landes und den Wiederaufbau gefördert, oder haben sie sich für einen kurdischen Separatismus und die Teile-und-herrsche-Politik des Westens engagiert? Der Libanon wird nicht ewig in der heutigen katastrophalen Situation verbleiben. Und früher oder später wird die Hizbullah eine noch bedeutsamere Rolle in der Regierung spielen. Dann wird man sich fragen, was hat Deutschland eigentlich für eine Einstellung zum Libanon? Ist es nicht das Land, dass eine vom Volk des Libanon gewählte Partei auf ihre eigenen Verbotsliste gesetzt und Gelder, die für Waisenkinder im Libanon bestimmt waren, konfisziert hat? Auch der Krieg im Jemen wird eines Tages mit dem Sieg der „Islamisten“ enden. Dann wird sich die Bevölkerung fragen, wen hat Deutschland eigentlich unterstützt, die an Hunger sterbende Bevölkerung im Jemen oder die ihre Bäuche nicht voll genug bekommenden Könige und Prinzen, welche das jemenitische Volk mit Bomben übersät haben? Syriens Befreiung wird nicht mehr lange dauern – so Gott will. Und dann werden die Syrer sich die Frage stellen, warum Deutschland ausgerechnet die Terroristen in Idlib so intensiv unterstützt hat und gleichzeitig die reguläre Regierung des Landes nicht mehr anerkennt und alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen hat?

In anderen Ländern sind die desaströsen Auswirkungen einer auf Islamhass aufbauenden deutschen Innen- und Außenpolitik schon längst spürbar. Warum – so fragen sich immer mehr Türken – steht Deutschland in der Türkei immer auf der Seite jener Kräfte, die keine Mehrheit im Volk haben, wo Deutschland doch jahrzehntelang nicht einmal Probleme mit Militärregimen in der Türkei hatte?

Das Afghanistan-Desaster der aktuellen deutschen Politik ist in Wirklichkeit ein Islam-Desaster. Während Deutschland ein über Jahrhunderte aufgebautes Vertrauen in der muslimischen Welt innerhalb weniger Jahrzehnte auf dem Scheiterhaufen einer Nibelungentreue zur kapitalistisch-imperialistischen Welt verbrennt, füllt China unaufhaltsam die Lücken, die Deutschland hinterlässt. Der 400-Milliarden-Deal Chinas mit dem Iran [17] und der Hafenbau Chinas im Libanon [18] sind nur zwei Beispiele einer aufstrebenden Supermacht, die das untergehende westliche Imperium konstruktiv ersetzt.

Wenn Deutschland seine eigene Zukunft nicht verspielen will, muss es seine Beziehung zum Islam und zu den Muslimen in der Welt neu ordnen. Wenn Deutschland nicht im Sog des untergehenden USraelischen Imperiums mit untergehen will, muss es zurück zu einer Dialogkultur, die versucht den anderen zu verstehen, indem er ihn zumindest zu Wort kommen lässt. Will Deutschland die Zukunft der eigenen Kinder sichern, so muss Deutschland sich befreien von dem selbstgebauten Gefängnis der Anti-Islam-Propaganda, die so laut herausgebrüllt wird, dass die eigenen Geheimdienste sie als wahr annehmen. Mit einer wachsenden Zahl an einheimischen Muslimen hat Deutschland das Potentials diese Aufgabe zu meistern. So lange aber die Interessen des westlichen Imperiums über die Interessen Deutschlands gestellt werden von Politikern, die vom Imperium ausgebildet sind, so lange wird Deutschland sich weiterhin wundern müssen über solche Desaster wie in Afghanistan. Es ist davon auszugehen, dass das Afghanistan-Desaster eine Mücke sein wird neben den Elefanten, die die Region schon bald aufsuchen könnten.


[1] https://www.nzz.ch/international/afghani...eren-ld.1640606
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/...rnahme-101.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Nichts-...ls-6166434.html
[4] https://www.rnz.de/eilmeldungen_artikel,...rid,722629.html
[5] https://www.deutschlandfunk.de/afghanist...news_id=1291746
[6] http://www.eslam.de/begriffe/w/west-oestlicher_diwan.htm
[7] http://www.eslam.eu/begriffe/q/quran-druck.htm
[8] http://www.eslam.de/manuskripte/historis...uselmaenner.htm
[9] http://www.eslam.de/manuskripte/gedichte...er_weisheit.htm
[10] http://www.eslam.de/manuskripte/gedichte..._wohltaeter.htm
[11] http://www.eslam.de/begriffe/h/hammer-purgstall-grab.htm
[12] http://www.eslam.de/begriffe/i/istanbule...ft_im_islam.htm
[13] http://www.eslam.de/begriffe/s/schimmel_annemarie.htm
[14] https://www.bundespraesident.de/SharedDo...50515_Rede.html
[15] https://www.emma.de/artikel/islamismus-s...raegerin-263562
[16] Offener Brief an den Verfassungsschutz zu Israel
[17] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/wel...-china-105.html
[18] https://www.welt.de/regionales/hamburg/a...esisch-ist.html


Yavuz Özoguz  
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zuletzt bearbeitet 18.08.2021 | Top

RE: Afghanistan-Desaster oder Islam-Ahnungslosigkeit?

#2 von Dr.Josef Haas ( gelöscht ) , 17.08.2021 11:00

Wieder einmal eine glänzende Analyse, mit der Sie, lieber Herr Dr. Özoguz, das was heute "Versagen
der Bundesregierung" genannt wird, kompetent erklärt haben.
Sie haben auf die positive Islam-Betrachtungsweise in der deutschen Vergangenheit verwiesen.
Einiges haben Sie im genannten Zusammenhang allerdings vergessen oder aus naheliegenden Gründen
bewusst nicht erwähnt. Ich nenne hier nur den Groß-Mufti von Jerusalem Mohamed Amin al-Husseini (1895-1974),
oder den früheren irakischen Ministerpräsidenten Raschid Ali a-Gailani (1892-1965), beides leidenschaftliche
Freunde Deutschlands, die dort vor 1945 auch Exil erhielten.
Es sei auch der gute Islam-Kenner Professor Johann von Leers (1902-1965) genannt, der vor seinem Lebensende
eine Aufenthaltsgenehmigung in Kairo erhielt und dort zum Islam übertrat.
Fürwahr: Die Sympathie für einen richtig verstandenen Islam gab es bei uns schon immer- leider allerdings nur
in der Vergangenheit. Umso wichtiger wäre und ist es, sie wiederzubeleben. Infolgedessen stellt der Taliban-Sieg
in Afghanistan im genannten Kontext durchaus eine Chance dar, die man hierzulande nutzen sollte!

Dr.Josef Haas

   

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