Offener Brief an das jemenitische Volk: Nicht in unserem Namen!
Sehr geehrtes Volk des Jemen,
ich grüße Sie mit dem Friedensgruß, der allen Völkern und allen Menschen gelten sollte. Ich schreibe Ihnen als ein Bürger Deutschlands allein im Namen meiner Wenigkeit, meiner Familie und meiner Freunde. Aber ich bin absolut sicher, dass tausende und abertausende Deutsche sich diesen Worten anschließen werden.
Ich entschuldige mich bei Ihnen allen, dass Marine-Soldaten der Bundesrepublik Deutschland vor Ihrer Küste, und damit viele tausende Kilometer von ihren Heimathäfen entfernt operieren. Auch wenn die Aktion von unserer Bundesregierung beschlossen worden ist und von großen Teilen der Opposition mitgetragen wird, seien Sie bitte sicher, dass es immer noch Menschen in Deutschland gibt, die diese Eskalation der Gewalt in keinster Weise mittragen. Vielmehr schämen wir uns dafür.
Ich habe gesehen und gehört, wie Pressesprecher des jemenitischen Volkes aller möglichen Ressorts immer wieder mit Versen aus dem Heiligen Quran argumentieren. Erlauben Sie mir daher als deutscher Muslim auch mit einem Vers zu beginnen: „Dass ihr ernsthaft aufstehen möget für Allahs Sache, zu zweit und allein, und daraufhin nachdenket.“ (Heiliger Quran 34:46). Und so ist es meine persönliche Pflicht, Ihnen diesen Brief zu schreiben, selbst wenn ich allein oder nur zu zweit wäre. Ich komme aus einem Land, in dem die Menschen das Wort „Gott“ kaum noch in den Mund nehmen und mehrheitlich auch glauben, nicht an ihn zu glauben. Den Eigennamen der Pracht „Allah“ verbinden sie eher mit negativen Gefühlen. Erlauben Sie mir daher, dass ich obigen Vers für meine deutschen Landsleute so übersetze, dass auch sie es verstehen: „Dass ihr ernsthaft aufstehen möget für die Wahrheit und die Gerechtigkeit, zu zweit und allein, und daraufhin nachdenket.“ So werden sich viele anschließen, denn noch sind wir als deutsches Volk nicht völlig von Wahrheit und Gerechtigkeit abgekoppelt, selbst wenn unsere Regierung oft diesen Anschein erweckt.
Meine Wenigkeit hat viel nachgedacht über das, was da im Bundestag am letzten Freitag geschehen ist. Da wurde rein formell über „die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EUNAVFOR ASPIDES“ [1] abgestimmt und kurz darauf hat sich unser Kriegsschiff mit dem Namen „Hessen“ auf den Weg gemacht, vor Ihre Küsten zu fahren. Leider wissen viel zu viele Deutsche überhaupt nicht, was dort zuvor geschehen ist und was die Hintergründe sind. Auch wissen viel zu viele nicht, was in jenem Bundestagsbeschluss eigentlich beschlossen worden ist. Ihnen wird immer nur mit überwältigender medialer Gewalt eingetrichtert, dass wir die Guten seien, die USA die Guten seien, Israel die Guten seien, und jeder, der sich gegen diese drei stellt, zu den Bösen gehöre, die es zu bekämpfen gilt. Leider glauben zu viele meiner Landsleute diese perfide Propaganda.
Ich bewundere die Empathie in ihrem Volk, das den Völkermord in Palästina nicht mehr ertragen konnte und auf die Straßen ging. Ich beglückwünsche Sie alle zu einem Volk, dass – obwohl es selbst verarmt ist und über wenige Möglichkeiten verfügt – so viel Mitgefühl für ein noch ärmeres Volk zeigen kann, während viel reichere Völker schwiegen.
Viele von uns Deutschen haben gar nicht so recht mitbekommen, wie es zu dieser Eskalation gekommen ist. Als Ihr mutiges Volk, dass diesen Ihnen auferlegten Krieg der Westlichen Welt getragen von Saudi-Arabien und den USA unter so vielen Opfern überstanden hat, und sie den Völkermord am palästinensischen Volk nicht mehr mittragen konnten, hat die von großen Teilen Ihres Volkes getragene Ansarullah-Bewegung, die bei uns verächtlich „Huthi-Rebellen“ genannt wird, ihre geographische Lage ausgenutzt und allen Schiffen, die einen Israel-Bezug haben, die Durchfahrt durch die Meerenge vor Ihrer Haustür untersagt, so lange der Völkermord anhält. Ursprünglich waren das nur wenige Schiffe. Es wäre ein Leichtes gewesen, jene wenigen Schiffe umzuleiten und die dadurch entstehenden Mehrkosten auf die nunmehr kriegslüsternen Staaten aufzuteilen. Es wäre kostengünstiger gewesen, es wäre friedlicher gewesen, und der Konflikt wäre nicht eskaliert, denn es wurde beschlossen, die Angriffe auszusetzen, sobald der Völkermord in Gaza endet. Selbst britische Schiffen haben Sie zunächst durchgelassen, wenn sie nicht für Israel bestimmte Waren transportierten. Leider ist hier niemand auf die Idee gekommen, den Völkermord in Palästina zu beenden, denn das, was Israel beschließt, ist für westliche Politiker heiliger als das, was im Heiligen Quran steht, für viele Muslime!
Sie müssen wissen, dass viele führende Politiker der Westlichen Welt einen Herrschaftswahn im Herzen tragen und vom Überheblichkeitsarroganz beherrscht sind. Weder achten sie die Goldene Regel, noch interessieren sie sich für Menschenrechte, wenn es um ihre Überlegenheit geht. Die weniger führenden Politiker, wie die deutschen, sind größtenteils Vasallen jener Wahnsinnigen. Alle zusammen ziehen jede Eskalation einer friedliebenden Diplomatie und der Problemlösung vor, denn sie wollen unbedingt, dass die ganze Welt sich vor ihnen verbeugt und niederwirft. So wie ich es verstanden habe, werfen Sie Jemeniten sich aber ausschließlich vor Gott nieder, oder in der Sprache meines Volkes, vor der Wahrheit und Gerechtigkeit.
Daher hat die Westliche Welt angeführt von den USA und den Briten ihnen faktisch den Krieg erklärt, ohne es jemals auszusprechen. Sie haben ihre Städte bombardiert mit dem Vorwand, Militäranlagen zu zerstören. Tatsächlich haben sie dabei auch Zivilisten „ermordet“, anders kann man das kaum nennen. Diese Kriegstreiber haben das getan, um Israel zu schützen und die Westliche Dominanz zu „verteidigen“. Denn schließlich hat kein Jemenit jemals zuvor westlichen Boden bedroht. Nach diesen Verbrechen der USA und der Briten war es nur allzu verständlich, dass Ihre Ansarullah-Bewegung in der Folge auch keine britischen und US-amerikanischen Schiffe mehr durchlassen wollte.
Gehrte Jemeniten, Sie kennen das satanische Prinzip besser als wir es in Deutschland kennen, denn da viele von uns Gott nicht mehr kennen, kennen viele auch das satanische Prinzip nicht. Es besteht darin, die eigenen Schandtaten auf möglichst viele Schultern zu verteilen und möglichst viele Menschen mit in den Abgrund zu ziehen. So haben die angelsächsischen selbsternannten Weltpolizisten uns Europäer gedrängt bei ihren Verbrechen mitzumachen. Und wir Deutschen, die wir schon längst unsere eigene Identität verloren haben [2], folgen dem Aufruf bedingungslos. So kam es zu jenem Bundestagsbeschluss, der unsere deutschen Soldaten einmal mehr in einen Krieg mit hineinzieht, mit dem wir Deutsche eigentlich überhaupt nichts zu tun haben.
Die Mehrheit im Bundestag war überwältigend: 538 Ja-Stimmen standen nur 31 Neinstimmen und 4 Enthaltungen entgegen. Solch eine Mehrheit haben wir extrem selten im Bundestag. Alle jene, die im Bundestag sitzen und glauben Muslime zu sein, haben dafür gestimmt. Selbst die Abgeordnete des Dorfes, aus dem ich stamme, hat dafür gestimmt, wofür ich mich gesondert entschuldige. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob all jene überhaupt so genau wissen, wofür sie gestimmt haben.
Viele dachten zunächst, es handele sich um eine Operation vor der jemenitischen Küste. Dabei steht im Beschluss: „… in der Meerenge von Bab al-Mandab und der Straße von Hormus sowie in den internationalen Gewässern im Roten Meer, im Golf von Aden, im Arabischen Meer, im Golf von Oman und im Persischen Golf.“ [1] Ja, das steht wirklich auch die Region „Persischer Golf“, der fast 2000 km entfernt ist. Den Deutschen wurde nicht erklärt, was der Einsatz mit dem Persischen Golf zu tun hat. Erstaunlicherweise ist Ihr Volk diesbezüglich weitaus informierter und weiß, dass es nicht um die Gewässer, sondern um die Quelle der islamischen Befreiungstheologie Iran geht.
Den Deutschen wurde die Behauptung aufgetischt, dass ein „Einverständnis der Regierung des jeweiligen Anrainerstaats zur Durchführung des Auftrags in seinen Hoheitsgewässern“ [1] vorliege. Allerdings hat man vergessen uns mitzuteilen, um welche Länder es sich dabei handelt.
Selbst unser Grundgesetz mit dessen Artikel 24 Absatz 2 wurde zur Begründung des deutschen Einsatzes in dem Bundestagsbeschluss herangezogen [1]. Allerdings scheint niemand im Bundestag das Grundgesetzt zu kennen und offensichtlich hat auch niemand die Gelegenheit gehabt, einmal hineinzusehen. Denn in Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“ [3]. Wie dieser Einsatz zum Schutz des Völkermordes in Palästina und bei gleichzeitiger Bombardierung Ihres Landes eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern soll, wird sich kaum jemanden erschließen. Das braucht es aber auch nicht, denn solche Details werden dem Volk nicht vorgestellt. Und ein ihrer Identität beraubtes Volk trägt viel zu vieles duldsam mit.
Für die Bundeswehr ergeben sich gemäß dem Beschluss unter anderem die Aufgabe zum Schutz von Schiffen im gesamten Einsatzgebiet, zu dem auch der Persische Golf gehört! Ich bezweifle, dass die abstimmenden Bundestagsabgeordneten das gelesen haben. Der Einsatz von „militärischer Gewalt“ wird ausdrücklich erlaubt. Fairerweise muss man hinzufügen, dass das Mandat aktuell „exekutive Aufgabe des Schutzes von Schiffen“ im Persischen Golf nicht zulässt. Das wird sich aber leicht umgehen lassen durch den sogenannten Selbstschutz. Für den Einsatz werden wir Deutschen mindestens 55 Millionen Euro ausgeben. Das Geld hätte gereicht, um die aktuellen Hungertoten in Gaza zu vermeiden!
In dem Bundestagsbeschluss heißt es unter anderem: „Iran trägt vor diesem Hintergrund ohne Zweifel eine erhebliche Mitverantwortung für die aktuellen Entwicklungen.“ Es wundert mich, dass der deutsche Botschafter im Iran für diese Unverfrorenheit nicht einbestellt worden ist. Eine Mitschuld der USA, Englands oder gar Israels gibt es in dem Bundestagsbeschluss nicht. Ich glaube, dass in dem Bundestagsbeschluss auch eine klare Lüge enthalten ist, die zur Rechtfertigung dient, aber nirgends belegt ist. Es heißt darin: „Der wirtschaftliche Schaden durch die Angriffe der Huthi-Miliz ist erheblich – auch für Deutschland.“ Kein einziges Schiff nach Deutschland hätte eine Ausweichroute einschlagen müssen, kein einziges Schiff mit Ziel Deutschland war vor dem Bundeswehreinsatz gefährdet. Selbst die Schiffe aus Deutschland, die für Israel bestimmt sind, dürften ja wohl kaum an Jemen vorbeigefahren sein. Insofern schafft erst der Militäreinsatz genau jene Gefährdung, für den er beschlossen worden ist. Doch jene Lüge dürfte zu den harmloseren gehören, mit denen wir Deutschen inzwischen tagtäglich von unserer eigenen Regierung und den dominierenden imperialistischen Medien in die Irre geführt werden.
Dieser offene Brief wird sicherlich nur eine sehr geringe Verbreitung finden. Dennoch möchte ich, dass sowohl Sie, als jemenitische Volk, als auch unsere deutschen Nachkommen eines Tages die Gelegenheit haben, nachzulesen, dass nicht alle Deutschen diesen skandalösen Beschluss mittragen, den unsere Regierung und das Parlament verabschiedet haben. Vom deutschen Volk sollte niemals wieder Krieg ausgehen!
Daher entschuldig ich mich im Namen aller Deutschen, die sich für diese Bundesregierung und das Parlament schämen, dass wir uns am offensichtlichen Kriegseinsatz gegen Ihr Volk und Ihr Land beteiligen. Sie sollen wissen, dass nicht das deutsche Volk kriegerische Einsätze an der Seite der USA, der Briten und Israels gegen Sie führen, sondern nur die Regierung und die meisten Parlamentarier.
Gott schütze alle friedliebenden Menschen, die sich für wahren Frieden in Gerechtigkeit einsetzen und an der Seite der Unterdrückten gegen die Unterdrücker engagieren. Und der Friede sei mit Ihnen.
Ihr geringer Mitmensch aus dem fernen Deutschland
Dr. Yavuz Özoguz
[1] https://dserver.bundestag.de/btd/20/103/2010347.pdf
[2] Wir müssen wieder Deutscher werden – Vorsätze für das neue Jahr
[3] https://www.bundestag.de/gg