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Brauchen wir noch die Maradscha?

#1 von Yavuz Özoguz , 16.01.2012 12:19

Brauchen wir noch die Maradscha?

Viele religiösen Regeln und Riten, sowie Titel und Lehrpläne werden als Gegebenheiten betrachtet und wenig hinterfragt. Dabei lebt die wahre Liebe zu den Ahl-ul-Bait stets von der Weiterentwicklung!

Bedauerlicherweise ist es so, dass viele Muslime die Dinge, die sie von ihren Eltern übernehmen, wenig hinterfragen und mangels Bildung auch gar nicht in der Lage sind, die Dinge vernünftig und konstruktiv weiterzuentwickeln. Ein sehr typisches Beispiel ist die Kenntnis über das in der Schia so wertvolle Buch “Mafatih-ul-Dschinan“. Viele, die sich nicht mit der Materie befasst haben, denken, dass es ein uraltes Buch der Schia ist, dessen Sammlung schon hunderte von Jahre genutzt wird. Tatsächlich wurde das Buch von Scheich Abbas Qummi – Gott habe in selig – zusammengestellt, und der ist erst 1940 gestorben. Heute ist es nach dem Heiligen Qur’an eines der wohl meistbeachteten Bücher der Schia. Zwar sind die von ihm gesammelten Bittegebete sehr alten Ursprungs, aber hätte er sie nicht vor zwei Generationen gesammelt, könnten wir heute nicht davon profitieren. Er hat sich also nicht auf dem “ausgeruht“, was seine früheren Generationen gesammelt haben, sondern hat es weiterentwickelt.

Eines der wohl wichtigsten Aspekte der heutigen Schia, über die wenig bzw. mit destruktiven Absichten diskutiert wird, ist die Instanz des Mardscha-e-Taqlid, dem Vorbild der Nachahmung bzw. Instanz der Nachahmung. Jeder erwachsene Schiit hat solch ein lebendes Vorbild, und es stellt sich die Frage, warum es solch eine Instanz gibt und wie sie weiterzuentwickeln ist.

Zunächst einmal waren bis 255 n.d.H. (also bis zum 9. Jh. n.Chr.) die reinen und fehlerfreien Imame die rechtmäßigen Vertreter des Propheten (s.). Doch bereits zu ihren Lebzeiten bedurfte es Gelehrter in allen Städten, denn die Kommunikationsmöglichkeiten waren begrenzt. Und manch eine Entscheidung konnte nicht so lange warten, bis z.B. eine Frage aus Medina nach Samarra hin-, und die Antwort wieder zurückgekommen sind. Aus jenen einzelnen Gelehrten entwickelten sich eine ganze Gruppe von Gelehrten und darauf aufbauend Schulen von Gelehrten, die kein anderes Ziel hatten, als die Abwesenheit bzw. Verborgenheit des reinen fehlerfreien Imams bestmöglich zu überbrücken. Da der Kontakt zwischen den Städten auf den Transport eines Boten auf dem Pferd beruhte, gab es keine andere Möglichkeit, als dass an jedem Ort bzw. in jeder Region ein Rechtsgelehrter war, der auf die Gegebenheiten seiner Zeit möglichst kurzfristig islamisch begründet reagieren konnte.

Die Kommunikationsgeschwindigkeit hat sich zwischen dem 9. Jh. n.Chr. und dem 18. Jh. n.Chr. kaum ernsthaft verändert. Zwar wurde die Schreibkunst weiterentwickelt, aber die Pferde konnten deshalb nicht schneller reiten. Der heutige Titel “Mardsch-e-Taqlid“ (Vorbild der Nachahmung) wurde allerdings erst im 19. Jh. eingeführt. Das hing unter anderem damit zusammen, dass die Buchdruckkunst auch in der islamischen Welt Einzug gehalten hatte, und jetzt die großen Gelehrten ihre Grundlagen-Fatwas einer größeren Schülerschaft auch in entfernten Orten zur Verfügung stellen konnten.

Als sich die Kommunikationsmöglichkeiten im 20. Jh. drastisch verbesserten, konnten die Fatwas eines Gelehrten sehr weit verbreitet werden. Dennoch gab es an verschiedenen Orten gleichzeitig mehrere “Mardschas“, deren Fatwas miteinander “konkurrierten“. Das war auch sehr sinnvoll, denn zum einen war der Verbreitungsgrad zwischen den Gelehrten zwar erheblich besser geworden, aber das bedeutete nicht, dass jeder Gläubige Zugang zu jedem Gelehrten haben konnte. Zudem gab es keinen islamischen Staat, so dass sämtliche Maradschas letztendlich gefährdet waren und die Vielzahl eine Art Schutz für die Gläubigen darstellte, die auch nach dem Ableben eines Mardschas (alterbedingt oder durch Ermordung) schnell einen Ersatz finden konnten.

Mit Gründung der Islamischen Republik Iran und der einstmals unvorstellbaren Entwicklung der Kommunikationsmöglichkeiten hat sich die Ausgangslage erneut verändert und zwingt die Gläubigen zur Weiterentwicklung. Zum einen gibt es jetzt einen islamischen Staat, der den Schutz der Maradscha, die in jenem Staat leben gewährleisten kann, und zum anderen sind die Kommunikationsmöglichkeiten derart, dass die Fatwas eines Gelehrten innerhalb von Minuten in der gesamten Welt gelesen werden können.

In solch einer Situation stellt das “parallele“ Wirken der Maradscha auch ein ernsthaftes Problem für die Gläubigen dar. Man nehme das Beispiel der Halal-Speise. Ein Mardscha sagt, dass bei der automatisierten Schlachtung von Hühnern für jedes einzelne Huhn eine Basmala durch einen dabei stehenden Menschen gesprochen werden muss, so dass den ganzen Tag jemand dabei steht und die Basmala sagt. Ein anderer Mardscha sagt, dass es genügt, wenn pro Einschaltung der Automation eine Basmala spricht. Wie ist nun die Situation beim gegenseitigen Besuch und gemeinsamen Essen? Zwar sagen alle Maradscha, dass jeder Muslim bei einem anderen Muslim in der Regel essen darf und nicht fragen darf, ob das Essen halal ist (weil solch eine Frage eine Beleidigung wäre), aber das ändert ja nichts am unguten Gefühl. Noch dramatischer wird die Situation, wenn unmittelbar benachbarte Maradscha die islamischen Feiertage zu verschiedenen Tagen ausrufen. Die Auswirkungen haben wir alle miterlebt. Sicherlich gibt es Auswege und Möglichkeiten die Einheit dennoch zu wahren, und das tun ja auch sehr viele, aber ist das nicht eine Verlagerung der Problematik von den Mardschas auf die gläubigen Anhänger?

Schließlich streben alle Schiiten – ja alle Muslime – die Rückkehr bzw. das Erscheinen des Erlösers Imam Mahdi an. Möge er bald erscheinen. Hier stellt sich die Frage, ob wir uns nicht auch dadurch auf jenes Erscheinen vorbereiten müssen, indem wir eine gemeinsame oberste Führung anstreben?

Die Realität der Kommunikationsmöglichkeiten stellt jeden heutigen Mardscha mit großer Anhängerschaft vor teils unlösbare Probleme, weil die Flut der Fragen nur noch von großen Teams bewältigt werden kann. Daher wäre es meines Erachtens angebracht, wenn sämtliche großen Maradscha der Welt sich der obersten religiösen Führung unterstellen und ihre Arbeitsleistung und ihren Einsatz einer gemeinsamen Führung eingliedern würden. Unterschiede in der religiösen Beurteilung von Detailfragen könnten bei regelmäßigen Treffen erörtert werden, um zu einer einheitlichen Linie zu kommen. Nach Darlegung seiner Argumente könnte der Mardscha die Linie der obersten religiösen Führung übernehmen und damit die Einheit der Muslime fördern.

Ich glaube, dass wir heute mehr Maradscha als je zuvor benötigen, aber keine Maradscha, die “eigenständig“ und “parallel“ zum bestehenden religiösen Oberhaupt agieren, sondern Maradscha, die das religiöse Oberhaupt stützen und unterstützen. In wie weit solch ein Ideal verwirklicht werden kann, liegt auch an uns Gläubigen. So lange wir z.B. als Iraker darauf bestehen, dass unser Mardscha ein Iraker sein soll und als Libanese ein Libanese usw. sind wir von dem islamischen Ideal weit entfernt. Allein dieses Gefühl ist ein Hindernis auf dem Weg zu Gott. Im Zeitalter des Internet müssen wir uns weiterentwickeln, sowohl im Hinblick auf den Umgang mit den Maradscha als auch bei den Lehrmethoden. Doch wäre es falsch, diese Weiterentwicklung allein auf die Schultern der Maradscha zu laden. Wir selbst müssen unseren Maradscha helfen die weitestgehende Einheit mit dem religiösen Oberhaupt herzustellen, auch indem wir diese Notwendigkeit betonen.

Möge die Diskussion darüber (auch in anderen Foren) konstruktiv erfolgen Inschaallah. Es ist selbstverständlich, dass andere Muslime andere Meinungen zum Thema vertreten werden. Das ist zu respektieren! Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, wer welche Meinung vertritt, sondern wie sie vertreten wird. Wenn jemand die scheinbar “richtige“ Meinung vertritt (welche es auch immer sein sollte), dies aber ungebührlich und respektlos tut, dann ist sein Auftreten definitiv falsch! Daher bitte ich abschließend bei den Diskussionen in anderen Foren genau auf diesen Aspekt zu achten, den gegenseitigen Respekt zu steigern und liebevoll miteinander umzugehen, und das betrifft nicht nur die Diskussion zu diesem Thema.

Yavuz Özoguz  
Yavuz Özoguz
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