Geboren um die Gänsehautfaszination zu leben
Wie schwer fällt es doch so vielen Muslimen die Faszination ihrer Liebe zu beschreiben, dieses wunderbare Gänsehautgefühl, bei der jede Pore nach Gott strebt!? Ich will es dennoch versuchen.
Wir leben in einer Zeit, in der alles Heilige entehrt und jede Beziehung zu Gott lächerlich gemacht wird, unabhängig davon, ob es Muslime oder Christen sind, die nach Gott streben. Dabei wünscht jeder die Momente herbei, in denen die Faszination das sogenannte Gänsehautgefühl hervortreten lässt. Schauer über Schauer können den Rücken herunterlaufen, zuweilen kommen einem die Tränen der Liebe, und die Faszination erreicht ihren Höhepunkt. Solch eine Faszination – wenn sie auf den Schöpfer jener Faszination ausgerichtet ist – ist unendlich schön und zieht den Menschen an wie einen Magneten. Und auch Menschen, die Gott noch nicht kennen, die Gott aber sehr gut kennt, wünschen sich jene Schauer.
Ich erinnere mich noch an meine Jugend in der Schulzeit, wie manche Jugendliche fasziniert waren von irgendwelchen englischen Liedern, obwohl sie sie gar nicht richtig verstanden. Eifrig setzten sie sich an das Radio, warteten, bis der Hit endlich wieder abgespielt wurde, und nahmen es dann mit ihrem Recorder auf. Danach spielten sie es Stück für Stück ab, um den Liedertext aufzuschreiben. Schließlich gab es kein Internet, in dem man den Text samt Übersetzung aufrufen konnte. Nach dem mühseligen Aufschreiben musste der Text ins Deutsche übersetzt werden, damit man den Sinn verstand. Das war allein schon deshalb so mühsam, weil man ja einige Wörter gar nicht richtig verstanden hatte bzw. kannte und dementsprechend auch nicht richtig aufschreiben konnte. Nach sehr mühseliger Arbeit war es dann endlich so weit. Man konnte nicht nur mitsingen, sondern kannte auch den Inhalt. Und das war schön. Wenn dann jener Star dann auch noch in die eigene Stadt kam, man ein Ticket für das Konzert ergattern konnte, und dann mit zehntausenden Anderen diese so geliebten Zeilen singen konnte, war das Gänsehautgefühl perfekt. Es war zwar (noch) nicht auf Gott ausgerichtet, aber es war genau das Gefühl, für das wir erschaffen worden sind: Die Faszination für die Liebe.
Jetzt werden sicherlich einige Salafisten die Nase rümpfen, uns den Vers aus dem Heiligen Qur’an zitieren, der besagt, dass wir nur zum Dienst an Gott erschaffen sind, aber diese armseligen Fanatiker glauben teilweise ernsthaft, sie könnten Gott etwas Gutes tun. Dabei ist “Dienst an Gott“ nur eine andere Beschreibung für “Faszination der Liebe“.
Sehr oft haben mich Nichtmuslime gefragt, wie ich Ihnen jenes Gefühl besser beschreiben könnte. Ich hatte keine Idee, bis ich einstmals ein Video von Sayyid Nasrullah gesehen habe, in dem er versucht Nichtmuslimen das Paradies zu erklären. Ausgehend von diesem Vorbild möchte ich hier versuchen den vielen gutherzigen Lesern des Muslim-Markt das Gänsehautgefühl der Liebe im Islam mit ihren Beispielen zu erläutern.
Als Anschauungsobjekt nehme ich ein Video der Gruppe “Unheilig“ (was für ein Name?) mit dem Titel “Geboren um zu leben“. Der sogenannte Graf (so nennt sich der Sänger) singt das Lied zusammen mit einem Kirchenjugendchor
http://www.youtube.com/watch?v=05AyzcmB-EI
Das Lied soll zu seiner Zeit monatelang an erster Stelle der besten Lieder gestanden haben. Es wird hier in einem Konzertsaal gesungen, in dem tausende Zuhörer mitsingen (auch wenn es in der Aufnahme nicht deutlich wird).
Es fällt mir schwer ohne dich zu leben
Jeden Tag zu jeder Zeit einfach alles zu geben
Ich denk so oft, zurück an das was war
An jeden so geliebten vergangenen Tag
Ich stell mir vor, dass du zu mir stehst
und jeden meiner Wege an meiner Seite gehst.
Ich denke an so vieles seitdem du nicht mehr bist
Denn du hast mir gezeigt wie wertvoll das Leben ist
Das Lied handelt über die Liebe eines Mannes, der seine Geliebte verloren hat, ein Motiv, dass jeden Menschen berührt! Jeder Mensch wünscht sich Liebe, jeder Mensch wünscht sich Wunder. Jeder Mensch weiß in seinem tiefsten Inneren, wie wertvoll das Leben ist. Jeder Mensch kann sich in die Situation des Sängers hineinversetzen. Dann setzt der Refrain mit dem Chor ein:
Wir waren geboren um zu leben mit den Wundern jeder Zeit
Sich niemals zu vergessen, bis in alle Ewigkeit
Wir waren geboren um zu leben
Für den einen Augenblick weil jeder von uns spürte, wie wertvoll Leben ist
Und für diejenigen, die das Lied kennen, die mitsingen können, setzten hier bereits die ersten Schauer über seinen Rücken ein. Er freut sich, er ist dankbar, er genießt, er empfängt, ohne irgendetwas dafür zu geben. Der Augenblick wird zur Ewigkeit und umgekehrt. Ja, in dem Moment könnte man davonfliegen, wenn man es nicht schon tut.
Die zweite Strophe endet mit der Aussage:
Ich sehe einen Sinn, seitdem du nicht mehr bist
Denn du hast mir gezeigt wie wertvoll mein Leben ist
Fast prophetisch anmutende Worte läuten die nächsten Schauer über den Rücken ein, ganz ohne Alkohol oder Drogen. Es ist einfach Schönheit für denjenigen, der so etwas mag. Noch “dramatischer“ wird das Gefühl, wenn man zusammen mit Zehntausenden singt, wie es in manchen Stadions-Live-Konzerten der Fall ist. Das Gefühl lässt den Fan noch stundenlang auf einer Wolke schweben. Doch am nächsten Tag ... setzt wieder der Alltag ein; ein Alltag mit all seinen grauen Aspekten, mit all den Sorgen und Problemen, mit allen Schwierigkeiten und Ablenkungen. Der “Süchtige“ nach diesem Gefühl will mehr! Doch jenes Konzert gibt es nicht jeden Tag. Außerdem will er eine “Steigerung“ jenes Gefühls. Er flüchtet sich in eine “Steigerung“ mit Hilfe von Alkohol und Drogen, aber es ist nicht befriedigend. Aus dem Gänsehautgefühl wird ein Frust, mit dem er nicht weiter kommt.
Der in Gott verliebte Muslim kennt jenes Gefühl auch. Auch er kann sich faszinieren – ja zuweilen selbst an solch einem Lied – aber sein Gänsehautgefühl ist auf Gott ausgerichtet. Und er kann das Gefühl z.B. beim Zuhören zu einem begnadeten Qur’an-Leser erhalten. Siehe z.B.
http://www.youtube.com/watch?v=FwQIXfW5kv0&feature=related
Der Leser liest in den ersten 11 Minuten die Verse 33:33-35 des Heiligen Qur’an und wiederholt sie mit feinen Betonungsnuancen. Für denjenigen, der die Verse nicht kennt, klingt es ungewöhnlich. Für denjenigen, der die oberflächliche Bedeutung der Verse kennt, ist es zumindest wunderschön gelesen. Für denjenigen, der die tiefere Bedeutung der Verse kennt, erzeugt diese Leseart das Gänsehautgefühl, und wenn er könnte, würde er so gerne mitlesen. Und dieses Gefühl – obwohl es die scheinbar gleichen Schauer über den Rücken jagt – unterscheidet sich doch grundlegend von dem erstgenannten Beispiel dadurch, dass der Genießer hier Teilhaber an einem Geheimnis wird, dessen Quelle unerschöpflich ist. Denn wer einmal verstanden hat, welch Faszination in solch einem Verszeichen steckt, der wird auch andere Zeichen in der Welt weniger übersehen. Er wird beim Beisammensein mit seinem Ehepartner Glück über Glück spüren. Und das ist kein Glück, das mit dem Alter “abkühlen“ könnte, sondern es wird immer “wärmer“. Seine Kinder werden ihm Dankbarkeit heraufbeschwören, da er für sie betet und Gott so viele der Gebete erhört. Und diejenigen, die Er noch nicht erhört hat, erzeugen neue Dankbarkeit, da es sicher gut so ist, wie es geschieht. Nach der Liebe zu den Menschen, die in ihm Glücksgefühle erzeugen, wirkt auch jedes Naturphänomen wundersam. Der Sonnenaufgang, der Sonnenuntergang, die Sterne in der Nacht, der Mond und vieles andere mehr. Das ist keine “Romantik“ sondern Erkenntnis. Jedes Blatt eines Baumes, der Duft einer Rose, die wunderbare Speise, und plötzlich wird jedes Lächeln, das ihm zufällt, zu einem Wink Gottes. Kann das nicht eine Faszination auslösen, die nicht morgen verfliegt, denn auch der scheinbare Ärger des Lebens ist doch nichts anderes als eine Erziehung der Potentiale, die den Menschen zu diesem paradiesischen Wundern führen kann?
Doch ist es jetzt die Zeit über so etwas zu schreiben? Während die Westliche Welt den dritten Weltkrieg vorbereitet, die halbe muslimische Welt in Aufruhr ist, Europa geradezu Spaß daran entwickelt die Menschen im Iran, aber auch in der Türkei, zur Weißglut zu treiben, die Armeen schlimmste Waffen auf Zivilisten richten, Tausende und Abertausende an Hunger sterben, der Raubtierkapitalismus wild um sich schlägt usw. usf., ist das jetzt der Zeitpunkt über ein Gänsehautgefühl zu schreiben?
Von den Ahl-ul-Bait, den großen Gottesdienern und Mystikern ist bekannt, dass sie jenes Gefühl in sehr intensiver Form immer dann erhielten, wenn sie sich auf das Ritualgebet vorbereitet haben, denn sie wussten, vor Wen sie gleich in direkter Rede treten werden. Und wenn sie dann das Gebet begonnen haben, sind sie wirklich “abgehoben“ zur Himmelfahrt.
Ja, wir beten nicht um zu leben sondern leben um beten zu können. Wer das versteht, der versteht auch, dass es keinen besseren Zeitpunkt geben kann, als heute über dieses Gefühl zu schreiben, heute, und auch morgen.
Wir waren geboren um zu leben mit den Wundern jeder Zeit
Sich niemals zu vergessen bis in alle Ewigkeit.
Wir waren geboren um zu leben
Für den einen Augenblick weil jeder von uns spürte, wie wertvoll Leben ist.