Wer befreit den Erlöser aus dem Brunnen und warum?
In einer Zeit der zunehmenden Verrohung in der Welt und immer deutlicher werdenden Zeichen des Zusammenbruchs eines Imperiums, werden viel zu viele Menschen damit abgelenkt, die Welt verbessern zu wollen, ohne zu berücksichtigen, dass die Verbesserung immer bei uns selbst ihre Basis hat!
Der Heilige Qur’an bietet viele Gleichnisse, um die Selbsterziehung zu verstehen. Ein Gleichnis ist auch Christen aus der Bibel bekannt. Es ist die Geschichte Josefs, im Islam als Yusuf bekannt. Die ihm neidenden Brüder werfen ihn in einen Brunnen, um ihn loszuwerden. Obwohl ihre Handlung satanischer Art war, waren sie dennoch nicht in der Lage Yusuf – der Friede sei mit ihm – irgendeinen Schaden zuzufügen. Yusuf vollzog danach eine Geschichte, die ihresgleichen sucht, um am Ende als strahlende Sonne die Finsternis zu überwinden. Die Brüder haben nur sich selbst und damit ihren eigenen Seelen Schaden zugefügt, wie es im Heiligen Qur’an beschreiben ist: Der Satan hat keine Möglichkeit, den von der Wahrheit überzeugten Menschen Schaden zuzufügen. Selbst der vermeintliche Schaden wandelt sich zum Nutzen für den Betroffenen und die Menschheit.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Geschichte Yusufs ausgerechnet die zwölfte Sure des Heiligen Qur’an beherrscht, die auch nach Yusuf (a.) benannt ist. Und so warten heute alle gläubigen Menschen, seien es Juden,. Christen oder Muslime auf den Erlöser. Gemäß Vorstellung der Schiiten ist der erwartete Erlöser der zwölfte, in der Verborgenheit lebende Imam, der jederzeit wieder „auftauchen“ kann. Doch selbst wenn man das Erscheinen eines vermeintlich anderen Erlösers erhofft, so stellt sich die Frage, warum man das erhofft! Die sehr unterschiedlichen möglichen Motive sind in der Geschichte Yusufs wiedergegeben.
Zunächst einmal ist dort die Händlerkarawane, die ihn im Brunnen findet und sich einen finanziellen Gewinn durch Verkauf des Sklaven erhofft. Wollen wir, dass der Erlöser kommt, damit wir persönlich einen Vorteil daraus ziehen können? Wollen wir, dass der Erlöser kommt, damit es uns besser geht, wir reicher werden? Oder sind wir bereit, dass es uns selbst materiell schlechter geht und wir viel opfern müssen, damit es der Welt besser geht?
Als Yusuf (a.) in Theben verkauft wurde, hat ihn Potifar gekauft, weil er für sich und seinen Palast viele Vorteile von dem Einkauf erhofft hat. Yusuf war noch jung, und Potifar wollte ihn zu seinen eigenen Gunsten erziehen. Wie ist es mit uns? Sind wir bereit dem Erlöser, wenn er kommt, in allen Aspekten zu folgen? Oder folgen wir ihm nur in den Aspekten, die uns gefallen? Sind wir bereit auf sehr viel Komfort unseres Lebens in Deutschland zu verzichten und viele Jahre das Leben viel ärmerer Länder zu teilen, damit die gesamte Menschheit in Zukunft besser leben kann, oder werden wir auf unsere Privilegien bestehen? Hat sich der Erlöser uns anzupassen oder wir ihm? Wenn er z.B. auf einer in jeder Hinsicht Halal-Lebensweise bestehen wird, werden wir ihn dann mehr lieben als vorher? Wenn der Autohändler, der die Autos mit übertriebenen Angaben verkauft und das nicht mehr darf, und wenn der Schwarzarbeiter, der nebenbei Sozialhilfe bezieht ihre unrechtmäßig erworbenen Güter abgeben müssen, wenn viele Händler mit erheblich weniger Gewinn auskommen muss, wenn alle unrechtmäßig erworbenen Güter den Armen übertragen werden, werden dann diejenigen, die abgeben müssen, den Erlöser wirklich lieben? Wie ist es mit uns, wenn wir zu denjenigen gehören, denen genommen wird? Würden wir den Erlöser dafür lieben?
Als Yusuf (a.) im Palast Potifars gelebt hat, hat ihn Sulaika geliebt wegen seiner Schönheit, ohne die eigene Ehe zu berücksichtigen. Die eigenen Gelüste standen im Vordergrund, nicht die Wahrheit. Wie ist es mit uns? Wie ist es mit unseren Gelüsten nach körperlicher Befriedigung, Sättigung, Genuss der Speisen und Getränke, Genuss des eigenen Gartens und vieles andere mehr? Werden wir den Erlöser nur dann lieben, wenn er uns unsere Gelüste – unabhängig davon ob erlaubte oder unerlaubt Gelüste – befriedigt, oder lieben wir ihn auch, wenn er uns das Fasten auferlegen wird und erhebliche Einschränkungen gegenüber unserem heutigen Leben, damit das Ungleichgewicht zwischen Armen und Reichen in der Welt beseitigt werden kann?
Als Yusuf (a.) ins Gefängnis geraten ist, wollten zwei Träumende von ihm die Traumdeutung. Bevor Yusuf die Deutung erläutert hat, hat er sie gefragt, ob sie die Deutung wissen wollen unabhängig davon, ob sie ihnen gefallen wird oder nicht. Angesichts der Tatsache, dass einer der beiden Fragenden sein eigenes Todesurteil in wenigen Tagen geträumt hatte, ist das keine einfache Frage. Wie ist es mit uns? Sind wir bereit auf die Erlösung, selbst wenn es für uns selbst bedeuten würde, dass wir in wenigen Tagen getötet werden? Sind wir bereit ein einziges Mal das Antlitz des lichterfüllten Gottesboten zu erblicken, selbst wenn unser Leben für ihn geopfert werden müsste, damit die Armen und Bedürftigen gerettet werden?
Als Yusuf dem anderen der Träumenden seine baldige Befreiung vorhergesagt hat, hat er diesen gebeten ihm einen kleinen Gefallen zu tun, wenn er wieder im Palast ist. Jener Befreite hat das viele Jahre vergessen! Wie ist es mit uns? Wie vergesslich sind wir bezüglich der Wahrheiten dieser Erde jeden Tag des Herrn? Wie oft vergessen wir unsere eigene Vergänglichkeit? Wie oft setzen wir uns für die Wahrheit ein und vertrauen auf unseren Schöpfer? Wie sehr unterstützen wir die Heiligkeit unserer Zeit?
Als Yusuf (a.) im Staatsapparat aufgestiegen ist, haben ihn einige Ägypter abgelehnt mit der Begründung, dass er kein Ägypter sei. Obwohl er nach Ansicht des Pharao der bestgeeignete für seine Aufgaben war, obwohl auch viele Zeitzeugen das bestätigen konnten, haben sich einige gewehrt. Ihr einziges Argument war, dass er kein Ägypter sei, und das, obwohl keine „Überfremdung“ drohte. Dies ist eine große Warnung an uns alle! Jeder Nichtiraner sollte sich einmal folgende Frage stellen: Kann es ein, dass er Imam Chamene’i mehr lieben würde, wenn er kein Iraner wäre? Würden einige Iraker, die ihn heute ablehnen, ihn akzeptieren, wenn er Iraker wäre? Und die gleiche Frage geht an Iraner! Würden sie Imam Chamene’i genau so lieben, wenn er kein Iraner wäre? Das ist eine sehr bedeutsame Frage für uns alle. Wenn irgendein Muslim Imam Chamene’i mehr lieben würde, wenn er sein „Landsmann“ wäre, dann hat dieser den Islam nicht verstanden. Und dieses innere Gefängnis des teuflischen Nationalismus verbreitet ihr Gift zunehmend in der ganzen Welt, auch bei Muslimen. Nicht die Wahrheit steht im Mittelpunkt, sondern rassistische Erwägungen. Nicht die wahrhaftige Kultur wird angestrebt, sondern die reinrassige!
Die Geschichte Yusufs (a.) beinhaltet noch viele weitere Aspekte, die einzeln zu erwähnen den Rahmen eines solchen Artikels sprengen würde. Die ersten schweren Sünder in der Geschichte waren seine Brüder. Als diese sich ernsthaft geläutert haben und opferbereit geworden sind, erschien das Licht der Erlösung auch wieder ihrem Volk.
Die ersten schweren Sünder auf der Seite des zwölften Imam waren Schiiten! Es hat keinen Sinn die Schuld auf andere abwälzen zu wollen. Es waren ursprüngliche Schiiten, die Imam Ali (a.) verraten und ermordet haben, es waren Schiiten, die Imam Hasan im Stich gelassen haben. Es waren Schiiten, die Imam Husain den Umayyaden ausgeliefert haben. Es waren Schiiten, die nicht im hinreichenden Maß auf die Imame gehört haben. Und auch heute sind es Schiiten, die den Erlöser im Stich lassen. Obwohl durch die Gnade Gottes und unter zweifelsohne Leitung des zwölften Imams der gesegnete Imam Chomeini die Islamische Revolution zum Erfolg bringen konnte, wurde sie von einer Armee angegriffen, in der mehrheitlich Schiiten waren. Obwohl Imam Chamene’i zweifelsohne in seiner Nähe zum Imam so viele Völkern geholfen hat, so vielen Afghanen ein Leben in Würde ermöglicht hat, so vielen Irakern bei der Ausbildung geholfen hat, so intensiv den Palästinensern geholfen hat, so vielen anderen hilfreiche und wahrhaftige Hinweise gegeben hat, erhält er von uns nicht die hinreichende Zuwendung, die ihm gebühren würde. Dabei wendet sich meine Wenigkeit nicht an irgendwelche Muslime, sondern ich beziehe mich auf uns Schiiten? Wie viele Schiiten gibt es weltweit, die sich lieber von einem der 20 aus England finanzierten sogenannten schiitischen Sendern leiten lassen, als von der Heiligkeit unserer Zeit? Wie viele Schiiten gibt es, die sich immer noch öffentlich blutig schlagen wollen, anstatt auf das entsprechende Verbot des Imams zu hören?
Und wie ist es mit uns, wenn es um die Unterdrückten dieser Welt geht? Wie viele schiitische Vereine in Deutschland sind bereit offen und wahrhaftig mit friedlichen Mitteln gegen die Vertreter der Regierung zu protestieren, wenn diese Regierungsmitglieder faktisch die Unterstützung eines Staates, der sieben Jahrzehnte lang besetzt, mordet und plündert, zur Staatsräson erklärt. Ist uns der Hilferuf des kleinen Mädchens aus Gaza wichtiger oder das Wohlwollen eines Parlamentspräsidenten? Stehen wir bei Interviews auf der Seite derjenigen, die Palästina schützen, oder auf der Seite des geringsten Widerstandes? Ziehen wir es vor nicht im Verfassungsschutzbericht erwähnt zu werden, als das völkerrechtsverbrecherische Israel anzuprangern? Und wie ist es mit den Flüchtlingen? Ein Großteil von ihnen sind Muslime. Sind wir Muslime auf sie vorbereitet? Falls wir nicht vorbereitet waren, improvisieren wir dann jetzt zumindest nach besten Möglichkeiten um zu helfen? Die meisten Flüchtlinge sind Flüchtlinge vor den Verbrechen der Westlichen Welt und des Kapitalismus. Prangern wir die Verbrechen des Imperiums deutlich genug an, beschäftigen wir uns hinreichend mit dem Kapitalismus, um das größte Verbrechenssystem in der Geschichte der Menschheit besser verstehen und anklagen zu können? Oder wollen wir von all dem nichts wissen, nur in Ruhe gelassen werden, keinen Ärger haben und gemütlich leben? Das gemütliche Leben werden wir dann genau so wenig erreichen, wie das Erscheinen des Erlösers. Er kommt sicher nicht zu schlafenden Menschen, sondern zu wachen Seelen.
Als vor rund 1400 Jahren der Bote Muslim ibn Aqil in Kufa eingetroffen war um die Ankunft des herbeigesehnten Erlösers vorzubereiten, wurde er vom Volk im Stich gelassen und von den satanischen Kräften ermordet. Der erwartete Erlöser kam nie nach Kufa!
Wenn wir miterleben wollen, dass unsere Gebete bezüglich der beschleunigten Erlösung Wahrheit werden, dann müssen wir in der heutigen Zeit das heutige Recht anklagen und die Boten des erwarteten Erlösers Willkommen heißen. Wir müssen die vielen heutigen Kerbelas in Palästina, in Syrien, im Jemen, im Irak und vielen anderen Orten der Welt anprangern. Wir müssen die Yazids der Zeit demaskieren, seien sie im so genannten Weißen Haus oder britischen Palästen. Wir müssen den Muslim ibn Aqil der Zeit schützen vor der Umzingelung des Imperiums.
Ja, es gibt noch sehr viel zu tun. Und alle diese Taten beginnen im eigenen Herzen. Wenn wir fragen „wer befreit den Erlöser aus dem Brunnen und warum“, dann kann es nur eine sinnvolle Antwort geben. Es ist einzig und allein der Schöpfer allen Seins, der das tun wird um der Menschheit die höchste Stufe der Liebe zu schenken. Doch die Befreiung des Erlösers durch den Schöpfer ist allgegenwärtig, wir müssen sie nur sehen und annehmen. Und dazu benötigen wir ein geläutertes Herz.