Evet oder Hayir zur westlichen Parallelgesellschaft – ein persönlicher Reisebericht
Die westliche Welt verabschiedet sich mit ihren immer deutlicheren und kaum noch zu übersehenden Verbrechen von der Menschheit und Menschlichkeit und versucht dies zu überdecken durch immer mehr Arroganz und den Zeigefinger auf andere Völker.
Nach einem fast zweiwöchigen Türkeiaufenthalt wollte ich eigentlich über die Zerrbilder sprechen, die in der westlichen Welt verbreitet werden. Noch bevor ich meinen Text schreiben konnte, bricht der oberste Führer der westlichen Welt, der US-Präsident das Völkerrecht mit seinem Bombardement Syriens derart eklatant, dass noch nicht einmal mehr die eingebetteten eigenen Journalisten darüber hinweg sehen können und vorsichtig bei den eigenen Politikern nachfragen. Diese bestätigen einmal mehr, dass Deutschland an der Seite aller Völkerrechtsverbrechen der USA und Israels steht und stehen wird. Diese ganze Situation hat sehr stark mit dem Konflikt zu tun, der scheinbar aus der Türkei in den Westen – insbesondere nach Deutschland – herüberzuschwappen scheint. Der Konflikt ist auch ein Konflikt eines untergehenden westlichen Weltreichs.
Warnungen vor der Türkei
Zwei bis drei Mal im Jahre fahre ich normalerweise in die Türkei. Noch bevor meine Ehefrau und ich dieses Mal abgereist sind, kamen mahnende Worte von Verwandten und Bekannten: „Willst Du wirklich in die Türkei reisen?“ „Hast du keine Angst dort festgenommen zu werden?“ „Du bist doch oft regierungskritisch gewesen in Deinen Schriften und sie buchten doch jeden ein, der etwas gegen Erdogan sagt“ usw. usf.. Da nütze mir auch nichts, dass ich deutscher Staatsbürger sei. Der erstaunlichste Einwand war: „In der Türkei herrscht doch Ausnahmezustand, da gelten andere Regeln“. Merkwürdigerweise hat kein einziger meiner Bekannten mich jemals davor gewarnt nach Frankreich zu reisen, wo ich manchmal beruflich hinfahren muss. Dort herrscht noch viel länger Ausnahmezustand als in der Türkei.
Bereits kurz nach der Landung in Istanbul wird klar. Die lästig Schlangen vor Passkotrollen wie in Deutschland gibt es hier nicht, und das schon seit mehreren Jahren! Und vorab kann ich feststellen, dass ich bei fast 100 Türkeireisen in meinem Leben noch nie so wenig Polizei auf den Straßen gesehen habe wie dieses Mal. Militär gab es gar nicht, und wir waren wirklich sehr intensiv unterwegs.
Wahlfestival
Die Evet- und Hayir-Stände sind vor allem dort aufgestellt, wo es sehr viel Publikumsverkehr gibt. So beschallen am Kadiköy-Bootsanleger die Kontrahenten einander in einer äußerst lockeren Atmosphäre gegenseitig mit ihren jeweiligen Liedern. Das Ganze hat eher eine Art Volksfestcharakter.
Die Hayir-Verfechter schreiben ziemlich unverblümt „Nein zum Ein-Mann-Regime“ auf ihre Plakate. Das Wort „Regime“ klingt im Türkischen kaum besser als im Deutschen. Dennoch regt sich kaum jemand darüber auf. Die neuste Idee der Hayir-Leute bestand darin, ihre Plakate auf den Boden zu kleben. Aber ob das eine wirklich gute Idee ist, dass alle darüber laufen, sei einmal dahingestellt.
Der Stand der HDP (linkes Foto) fand in Kadiköy stets großen Andrang. In anderen Stadtteilen war die Sympathielage anders verteilt.
Es gab auch an manchen Stellen sehr spontane Demos für oder gegen das eine oder andere. Dabei gab es weder eine aufgeregte Bevölkerung noch irgendeine Polizei, die gekommen und eingeschritten wäre. An fast allen Ständen wurde zu Folklore getanzt, mal nach recht und mal nach links. Selbst die Kommunisten (TKP) haben ihre Broschüren problemlos verteilen können.
Die Broschüren aller Parteien sind vergleichsweise sachlich gestaltet. Die Argumente der Gegner sind in Deutschland hinreichend bekannt. Die Argumente der Befürworter hingegen nicht. So soll mit dem Referendum z.B. die bisher geltende Immunität des Regierungschefs selbst bei Straftaten aufgehoben werden können (was bisher nicht möglich war). Das passive Wahlrecht wir von 25 auf 18 Jahren herabgesetzt. Die Militärgerichte werden abgeschafft und vieles andere mehr. Einige Argumente finden sich sowohl auf den Plakaten der Befürworter als auch der Gegner. So meinen die Gegner, dass Wahlen für Parlament und Regierungschef nur alle fünf Jahre zu viel Zeit für Missbrauch ebnet, wohingegen die Befürworter darin die Gelegenheit sehen auch einmal größere notwenige Projekte ohne Wahlkampf durchsetzen zu können.
Warum gibt es so viel Ärger in und mit Deutschland?
Auffällig ist, dass die Wahlkampfstimmung in der Türkei viel gelassener ist als bei Türken in Deutschland! Da stellt sich sofort die Frage nach dem Warum. Wir haben während unseres Besuches ca. 30 Taxifahrten in der Stadt und auch außerhalb. Taxifahrer sind in jeder Stadt ein guter Gradmesser für die Stimmung und man erhält sehr schnell viele Informationen, vorausgesetzt man spricht die Sprache. Da die Taxifahrer meine Wenigkeit – im Gegensatz zu den westlichen Journalisten – als Ihresgleichen angesehen haben, kam es immer sehr schnell zu intensiven Gesprächen über die Volksabstimmung. Etwa die Hälfte der Taxifahrer stand voll hinter der angestrebten neuen Verfassung. Die andere Hälfte war entweder dagegen oder noch unentschlossen. Auf die Frage, warum es in Deutschland bei diesem Thema so viel undemokratischer zugeht als in der Türkei wussten alle Taxifahrer aller Richtungen die gleiche Antwort: Die deutsche Regierung hat sich offen in die innere Angelegenheit der Türkei eingemischt und die Gegner hofiert, während sie die Befürworter mit teils fadenscheinigen Begründungen behindert hat. Dadurch kam es zu einer hitzigen Atmosphäre. Als Grund für die Verschlechterung der Beziehungen wird auch angeführt, dass die Türkei der deutschen Regierung Listen von verdächtigen bzw. beschuldigten Personen übergeben hat, um dann zu erfahren, dass Deutschland jene Personen gewarnt hat in die Türkei zu reisen bzw. das türkische Konsulat (also türkisches Hoheitsgebiet) aufzusuchen. Man stelle sich nur vor, das wäre umgekehrt geschehen.
Auffällig war vor allem das politische Bewusstsein aller Taxifahrer und ihre Einigkeit in viele Fragen. So sahen alle die USA (zusammen mit Israel) als Feind der Türkei an, von der man sich lösen muss. Im Schlepptau hing die gesamte Westliche Welt.
Darf man in der Türkei „Nein“ sagen?
Völlig überrascht und amüsiert waren allen Taxifahrer aller Richtungen, als ich ihnen erzählt habe, wie deutsche Medien darüber berichteten, dass man in der Türkei nicht mehr „Nein“ sagen dürfe. Eine Kampagne gegen das Rauchen in der Provinz Trabzon sei abgesagt worden, weil das „Hayir“ hier missverständlich gewesen wäre. Manche Taxifahrer dachten, dass ich ihnen eine verspäteten Aprilscherz verkaufe. Als ich sie darauf hingeweisen habe, dass es ernst sei, haben sich alle an den Kopf gefasst und die Frage gestellt, warum denn die Deutschen solch einen Blödsinn überhaupt glauben würden. Ich konnte es ihnen nicht beantworten. Tatsächlich gibt es an jeder Ecke irgendeine Nein-Kampagne wie diejenige gegen Drogen.
Sind Deutsche Nazis?
Allen im Land ist klar, dass Erdogan mit seinen wiederholten Nazi-Vergleichen übertrieben hat oder provozieren wollte. Doch das erstaunliche dabei ist die Rechtfertigung: Die Türken wurden von der westlichen Welt seit Jahrzehnten gedemütigt, da schade es nicht, wenn die Deutschen auch einmal gedemütigt werden. Die Dauerdemütigung der muslimischen Welt durch die arroganten Mächte wird in den folgenden Jahren sicherlich noch in viel intensiverem Maß auf die westliche Welt wie ein Bumerang zurückfallen. Nazivergleiche wurden übrigens nicht von der Türkei eröffnet. Es waren deutschen Politiker, die vom Ermächtigungserlass in der Türkei gefaselt haben. Jener Nazi-Vergleich hat aber kaum einen deutschen Journalisten oder Politiker aufgeregt.
Ist die türkische Wirtschaft am Ende?
Die heutige türkische Wirtschaft hat mit islamischen Idealen sehr wenig zu tun und könnte als Paradebeispiel für einen auf Kosten zukünftiger Generationen aufgebauten Raubtierkapitalismus herhalten. Doch mit solch tiefsinnigen Fragen beschäftigen sich die Händler in der Türkei genau so wenig wie die Aktienhändler in Deutschland. Für den Bazari zählt, ob sein Laden gut läuft oder nicht. Beim Besuch eines befreundeten Bazari im „Kapali Tscharschi“, dem überdachten historischen Bazar in Istanbul, habe ich ihm genau diese Frage gestellt. Seine Antwort war verblüffend. Zwar sei die Zahl an westlichen Touristen (und damit Käufern) drastisch gesunken. Aber das würde inzwischen mehr als kompensiert durch Käufer aus Asien und Afrika. Und die Russen kämen auch wieder zurück. Tatsächlich sieht man an vielen Verkaufsständen, an denen früher englische Schriften glitzerten, heute arabische Schriftzeichen und russische. Von einer wirtschaftlichen Unzufriedenheit war wenig zu spüren. Der Bauboom in Istanbul ist ungebrochen. Die Wolkekratzer verschandeln zwar das Stadtbild, verdeutlichen aber, dass es der Türkei lange nicht so schlecht geht, wie in Deutschland behauptet. Einige alten Alkohol-Hotels bekommen ihre Zimmer zwar nicht mehr voll. Aber die unzähligen neuen oder umgebauten Halal-Hotels verlangen horrende Preise in der Ferienzeit, weil sie ausgebucht sind.
Was ist mit Deniz Yücel?
In der Türkei sind seit dem Putsch viele Personen inhaftiert und es gibt weitaus wichtigere und prominentere Personen für die Türken als der antideutsche Springer-Journalist, über den sie diskutieren. Dennoch wussten fast alle, dass Deniz Yücel ohne Akkreditierung in der Türkei im Ausnahmezustand Kampfgebiet der Kurden tätig war, danach in die deutsche Botschaft geflohen ist, sich dort einige Wochen aufgehalten hat und erst danach gestellt hat. Viele wundern sich darüber, dass Deutschland sich ausgerechnet für diesen hundertfünfzigprozentigen Pro-Zionisten und Antideutschen so laut einsetzen. Für die Türken selbst aber war er kein Thema. Die meisten Türken wissen auch nicht, dass viele Deutsche gar nicht wissen, was Yüsel gemacht hat und wer er ist.
Was ist mit den Frauenrechten?
Das Märchen, dass es der westlichen Welt bei ihrem Einsatz für oder gegen irgendetwas um Menscherechte ginge, glaubt in der Türkei niemand mehr. Die westliche Welt will die Welt beherrschen und die Türkei will nicht mehr beherrscht werden. Insbesondere bei den Religiösen regt sich sehr großer Widerstand gegen die westliche Welt. Als Jahrzehnte lang Frauen mit Kopftuch weder ins Parlament gewählt werden durften, noch studieren oder Beamtin werden konnten, hat sich niemand in der westlichen Welt für jene Frauen eingesetzt. Jetzt, da sie mit Kopftuch sogar in die Armee können, setzt sich die westliche Welt für Menschenrechte in der Türkei ein; das glaubt ihnen die Mehrheit nicht mehr. Auch das Argument der angeblich verloren gehenden Frauenrechte kann die Mehrheit im Land nicht beeindrucken. 1993 hatte die Türkei die erste Frau im Amt des Ministerpräsidenten der Türkei. Da war Frau Merkel gerade mal Bundesministerin für Frauen und Jugend. Unter der amtierenden AKP-Regierung gibt es mehr Frauen im türkischen Parlament (mit und ohne Kopftuch) als je zuvor.
Wird die Türkei zu einer Diktatur?
Was aus der Türkei wird, das müssen die Türken ganz alleine entscheiden. Die Gegner der Verfassungsänderung sehen die Gefahr einer Alleinherrschaft. Die Befürworter verweisen auf die maximal zweimalige Legislaturperiode. Doch die eigentliche Diktaturgefahr lauert an einer ganz anderen Stelle in der Türkei. Die Firma Nestle beherrscht solch einen großen Teil des türkischen Lebensmittelmarktes, dass es fast unmöglich ist, sich davon zu befreien. Selbst das in der Türkei so lebensnotwendige Trinkwasser muss man zumeist bei dem Konzern kaufen. Der Monopolisierungsgrad ist diesbezüglich in der Türkei erheblich weiter vorangeschritten als z.B. in Deutschland. Das aber stört den westlichen Kapitalismus in keinster Weise!
Rückreise zur Verständigung
Der Flughafen Atatürk im Stadtteil Yesilköy platzt aus allen Nähten. Dennoch erfolgen Kontrollen sehr zügig. Um das enorme Fluggastaufkommen besser beherrschen zu können hat Istanbul einen neuen Flughafen gebaut, der schon in ein bis zwei Jahren in Betrieb gehen könnte. Er wird zu einem der größten Flugdrehkreuze Europas und kann es dann mit Frankfurt aufnehmen. Im Gegensatz zu Berlin scheinen die Türken den Flughafen auch wirklich in Betrieb nehmen zu können. Im Rückflieger nach Bremen sitze ich in einem hochmodernen Airbus mit individuellem Bildschirm und schau mir den Wahlfilm „Arrivals“ an. Menschen versuchen verzweifelt mit Außerirdischen zu kommunizieren, was angesichts der verschiedenen Sprachen zunächst unmöglich erscheint. Türken in Deutschland und Deutsche sprechen die gleiche Sprache und verstehen einander dennoch nicht. Der Grund liegt an einer Arroganz der westlichen Welt, die ihre jahrhunderte Lange Weltmacht auf Demütigung der anderen Völker aufgebaut hat. Heute schreibt die pro-zionistische Bild-Zeitung, dass Trump die Gasopfer in Syrien gerächt hätte. Rache als westlicher Wert ganz offen ausgelebt! Die muslimischen Völker wollen sich aber nicht mehr widerstandslos demütigen lassen, und viele andere Völker auch nicht. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn Muslime aller Völker sich auch das Racherecht anmaßen würden?
Wie die Wahlen in der Türkei ausgehen werden, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die westliche Arroganz nicht mehr sehr lange ihren verbrecherischen Kurs gegen den Rest der Menschheit aufrechterhalten kann. In dieser gefährlichen Phase der Weltgeschichte wird Deutschland mit darüber entscheiden, ob es einen selbstzerstörerischen dritten Weltkrieg geben wird oder einen Weg des gerechten Ausgleichs mit gegenseitiger Verständigung. Es schmerzt mich als Deutscher sehr, wenn unsere nichtdiktatorischen Repräsentanten die größten Verbrecher unserer Epoche unterstützen. Und dass sollte jeden Deutschen mehr berühren als Wahlkämpfe türkischer Politiker auf deutschem Boden.