Die Taliban, der gescheiterte Westen und General Sulaimani
Die Ereignisse in Afghanistan sind für große Teile der Westlichen Welt derart schockierend, dass in den unterschiedlichen Analysen nicht nur Schuldige gesucht werden, wobei mehr oder weniger alle schuldig sind, sondern auch Ursachenforschung betrieben wird. Der eingeschränkte westlich-kapitalistische Blick gepaart mit den neoliberalen Scheuklappen der freiwilligen Selbstunterwerfung in ein USraelisches Imperium verhindern aber eine vernünftige und vor allem konstruktiv zukunftsorientierte Analyse [1].
Ganz anders fallen die Analysen in der direkt betroffenen muslimischen Welt aus: Seyed Mohammad Marandi ist Professor für Englische Literatur und Orientalismus an der der Universität Teheran und Leiter des Fachbereichs Amerikanistik. In der libanesischen Publikation Al-Mayadeen Media Network, einem unabhängiger arabischen Satellitennachrichtensender mit Sitz in der libanesischen Hauptstadt Beirut, veröffentlich er unter dem Titel „The Flight from Kabul and the Legacy of General Soleimani“ (Die Flucht aus Kabul und das Erbe von General Soleimani) eine sachliche Analyse [2], in welcher er auch historische und gegenwärtige Tatsachen und Aspekte berücksichtigt, die allein schon aus politischen Gründen in der Westlichen Welt unterdrückt werden. Seine Analyse ist Grundlage für folgenden Text, der mit Zusatzinformationen Quellenangaben ergänzt wird.
In der Islamischen Republik Iran wird davon ausgegangen, dass der in jeder Hinsicht chaotisch wirkende Rückzug der US-Besatzer bewusst herbeigeführt worden ist. So sagt der Präsident der Besatzungsmacht USA Joe Biden: „Das Chaos war unvermeidbar“ [3]. Sicher war es unvermeidbar, wenn man ein bestimmtes Ziel verfolgt, nämlich genau jenes Chaos im Land zu hinterlassen. Das Motto des arroganten Imperiums, das im Iran als „Großer Satan“ [4] betitelt wird, lautet: Wenn wir schon das Land nicht beherrschen können und rausgeworfen werden, dann soll niemand das Land beherrschen und es soll im Chaos enden. Tatsächlich aber gerieten nur die Truppen der Westlichen Welt, ihre eigenen im Stich gelassenen Staatsbürger und Verbündete des Westens ins Chaos. Für die meisten Afghanen verlief der Übergang vergleichsweise geordnet und friedlich ab.
Vor etwa 20 Jahren, nach der vernichtenden Niederlage der Taliban in Afghanistan und dem vollständigen Entzug der Unterstützung aus Pakistan und Saudi-Arabien auf Druck der USA, begannen die iranischen Quds-Brigaden einen ersten Versuch eines Dialogs mit den Taliban. Die Quds-Brigaden sind im Westen erst mit der fast zwei Jahrzehnte später erfolgten völkerrechtswidrigen Ermordung ihres Generals Qasim Sulaimani [5] berühmt geworden. Der damals geheime Dialog erfolgte mit einer scheinbar geschrumpften Taliban-Organisation. Zu jener Zeit hielten viele im Iran solch ein Gespräch für ein bedeutungsloses Unterfangen, da sich die politische Landschaft in der Region mit der Besatzung durch die USA dramatisch verändert hatte. Zudem hatten die Taliban am 8. August 1998 im iranischen Konsulat in Masar-i-Sharif elf iranische Diplomaten und einen Journalisten ermordet [6]. Am 8. August wird noch heute im Iran an den „Tag der Journalisten“ gedacht. Bei solche einer Ausgangslage wären jegliche Gespräche mit den Taliban aus Sicht vieler Iraner unverständlich gewesen. Nicht so für General Sulaimani, dessen Blickwinkel schon damals weit über seine eigene Lebenszeit hinaus reichte. Klar war, dass die USA nicht ewig in der Region bleiben werden. Und klar war auch, dass Afghanistan und Iran nicht nur Nachbarn sind und ein gemeinsames historisches Erbe teilen, sondern beides muslimische Brüdervölker sind.
Klar war zudem bereits damals, dass den US-geführten Besatzungstruppen eine kohärente langfristige Strategie fehlte. Sie hatten auch keine Verbündeten mit maßgeblichen Einfluss Vorort. Hingegen waren wichtige Widerstandsgruppen gegen die Besatzung sowie zahlreiche politische Organisationen Afghanistans in Teheran stationiert. Doch auch das konnte oder durfte die Westliche Welt nicht ernst nehmen, da eine katastrophale Feindschaft gegen die Islamische Republik Iran, die in Teilen historisch einmalig ist, den eigenen Blick versperrt hat. Die Lage in Afghanistan war allerdings mehr als verworren: Die USA und ihre völlig kritiklosen Verbündeten mussten sich einer Koalition politischer Parteien oder der sogenannten Nordallianz zuwenden, die unter enormem Druck im Widerstand gegen die vom Ausland unterstützten, brutalen und rücksichtslosen Taliban kämpfte. Die Taliban wurden zerschlagen und verjagt. Dennoch glaubte General Sulaimani, dass die Taliban weiterhin von einem bedeutenden Teil der paschtunischen Stämme und Bevölkerungen im Süden Afghanistans und in Teilen Pakistans unterstützt werden, da dieser General sich nie in die „Höhen“ arroganter Befehlsbrücken verkrochen hat, sondern immer mit dem Volk lebte. Er war der Ansicht, dass der einzige Weg zu langfristiger regionaler Stabilität für alle Parteien der Weg des Dialogs sei.
General Sulaimani glaubte auch, dass unter solchen Umständen die Taliban die einzige Kraft waren, die opferbereit war, die Kosten der von den USA geführten Besatzung deutlich in die Höhe zu treiben. Eine Besatzung eines Nachbarn Irans durch den Erzfeind USA lag nicht im Interesse des Iran. General Sulaimani wusste, dass nur durch den Widerstand der jeweils einheimischen Bevölkerung die Besetzung sowohl des Irak als auch Afghanistans in den westlichen Ländern nach und nach äußerst problematisch und unpopulär werden würde und dass eine so große Belastung letztendlich die westlichen Volkswirtschaften hart treffen und sie zwingen würde, ihre Truppen aus beiden Ländern abzuziehen. Allein die USA haben in Afghanistan 2 Billionen US-Dollar im wahrsten Sinn des Wortes verbrannt und damit auch gleichzeitig hunderttausende Zivilisten [7]. Hätten sie das Geld den Afghanen nur geschenkt, wäre Afghanistan zu den reichsten Völkern der Region aufgestiegen mit Sympathien für die Schenker.
Das damalige Ziel der Quds-Brigaden war es, gegenseitiges Verständnis zu schaffen und die gemäßigteren Fraktionen innerhalb der zersplitterten Taliban zu ermutigen, die Oberhand zu gewinnen. General Sulaimani hielt es für unausweichlich, dass ausländische Truppen irgendwann gezwungen sein würden, das Land zu verlassen, und dass es nach der Befreiung des Landes wichtig sei, dass Afghanistan nicht von den sich zurückziehenden Besatzungstruppen in einen weiteren verheerenden Bürgerkrieg und ins Chaos gedrängt werde.
2011 war ein bedeutender Wendepunkt in den Beziehungen, und hochrangige Delegationen begannen, Teheran zu besuchen. Im Laufe der Zeit wurden die Beziehungen persönlicher, so dass, als General Sulaimani, Abu Mahdi al-Muhandis [8] und ihre Gefährten auf dem internationalen Flughafen von Bagdad vom Trump-Regime ermordet wurden, eine hochrangige Taliban-Delegation nach Teheran reiste und sein Haus besuchte, um seiner Familie ihr Beileid auszusprechen.
Während die andauernden westlichen Anschuldigungen einer angeblich iranischen Militärunterstützung für die Taliban gegen afghanische Regierungstruppen völlig haltlos waren und sind, gab es einen bedeutenden und aufschlussreichen Fall, in dem die Taliban tatsächlich um iranische Unterstützung baten. Sowohl der iranische Geheimdienst als auch die Taliban wussten, dass mit den USA verbundene Fraktionen innerhalb des schnell zusammenbrechenden IS aus Syrien vertrieben und in Afghanistan eingesetzt wurden. Die Taliban baten die Quds-Brigaden um Hilfe bei der Bekämpfung der existenziellen Bedrohung. Der Iran informierte die afghanische Regierung, die mit einer solchen Zusammenarbeit nicht besonders glücklich war, aber sie hatte letztendlich keine Einwände. So wurden die von den USA unterstützen IS-Söldner ein zweites Mal vertrieben, dieses Mal aus Afghanistan.
Letztendlich gingen die Taliban vier Verpflichtungen gegenüber den Quds-Brigaden ein. Sie würden die Stabilität an der Grenze zum Iran aufrechterhalten. Sie würden keine Kompromisse bei seiner Ablehnung der Präsenz ausländischer Kräfte akzeptieren. Sie würden keine anderen ethnischen Gruppen oder Rechtsschulen unterdrücken. Und Brüder würden keine Brüder töten. Während es innerhalb der Taliban unterschiedliche Fraktionen mit sehr unterschiedlichen Ansichten gibt, sind die Analysten im Iran derzeit zu dem Schluss gekommen, dass die amtierende Taliban-Führung ihren Versprechen verpflichtet geblieben ist, wie man es auch nach der Machtübernahme in den ersten Tagen sehr deutlich beobachten konnte, zumal gerade die für Schiiten bedeutsamen Trauerprozessionen stattfanden. Die Prozessionen wurden von den Taliban sogar geschützt [9].
Diese Beziehung hat der Islamischen Republik Iran in den letzten Wochen und Monaten geholfen, ein effektiver Vermittler zu werden, um sicherzustellen, dass der Rückzug der Besatzungstruppen nicht zu einem Bürgerkrieg führt, und die neue Regierung dazu zu bewegen, alle Afghanen einzubeziehen. Der Iran hat guten Grund zu der Annahme, dass der plötzliche Rückzug der westlichen Streitkräfte darauf abzielte, Instabilität und Chaos in Afghanistan zu schaffen. Die USA beabsichtigen, wenn sie Afghanistan schon nicht beherrschen können, dass das Land zu einer Quelle anhaltender Probleme werden sollte für Iran, China, Russland und sogar Indien. Inzwischen werden erhebliche Geldsummen von Saudi-Arabien und zwei anderen regionalen US-Vasallen zur Unterstützung extremistischer Fraktionen innerhalb der Taliban überwiesen. Der Iran versucht auf dem Weg des Dialogs und des friedlichen Verständnisses alles zu tun, um Tragödien zu verhindern, was derzeit offensichtlich funktioniert. Falls das aber eines Tages aufgrund anhaltender direkter oder indirekter US-Unterstützung für Extremisten nicht mehr funktionieren sollte, so hat der Iran schon deutlich signalisiert, dass dann die Quds-Brigaden diejenigen vehement unterstützen werden, die sich dem Extremismus und Terrorismus widersetzen. Ein erneutes militärisches Eingreifen des Westens nach diesem chaotischen Rückzug ist faktisch ausgeschlossen.
Der Iran arbeitet und verhandelt ständig mit den verschiedenen Parteien in Afghanistan sowie mit Nachbarländern sowie mit China und Russland, um die Bemühungen derer zu blockieren, die auf eine Rückkehr in die dunkle Vergangenheit drängen. Die bevorstehende Mitgliedschaft des Iran in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit wird seine Fähigkeit verbessern, die diesbezüglichen internationalen Bemühungen zu koordinieren. Und China ist gewillt Milliarden im Land zu investieren, um die Lebensumstände in Afghanistan zu verbessern.
Deutschland muss sich entscheiden, ob es weiterhin jedes Verbrechen des USraelischen Imperiums mittragen und im Untergang des Imperiums mit untergehen, oder sich endlich befreien will. Denn die Flucht aus Afghanistan war sicherlich nicht die letzte Flucht des untergehenden Imperiums. Syrien und Irak werden schon bald folgen, und nach dem Fall Jemens kann die USA auch alle ihre Könige und Prinzen einsammeln und bei sich aufnehmen. Nicht zuletzt wird auch das besetzte Palästina befreit werden, denn keine Besatzung währt ewig.
Obwohl es in der westlichen Welt nur von Historikern wimmelt, die den historischen Ablauf eines untergehenden Imperiums hinreichend erforscht haben, und obwohl es keinen Zweifel mehr daran gibt, dass das USraelische Imperium nicht mehr zu halten ist, hängt die deutsche Politelite immer noch am Zipfel der brennenden US-Flagge. Wir sollten uns alle dafür einsetzen, dass Deutschland sich dabei nicht die Finger und noch viel mehr verbrennt.
General Sulaimani ist nicht mehr unter uns, aber sein Vermächtnis fügt dem sterbenden US-Imperium weiterhin Schläge zu. Und die wahren Kommandanten Imam Chameneis leben und sterben mit der Weitsicht eines al-Hussaini!
[1] Afghanistan-Desaster oder Islam-Ahnungslosigkeit?
[2] https://english.almayadeen.net/articles/...neral-soleimani
[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausl...r-17492402.html
[4] http://www.eslam.de/begriffe/g/grosser_satan.htm
[5] http://www.eslam.de/begriffe/s/sulaimani_qassim.htm
[6] https://www.dw.com/de/prek%C3%A4re-lage-...enze/a-58830024
[7] https://www.youtube.com/watch?v=xqWveOoSLXM&t=40s
[8] http://www.eslam.de/begriffe/a/aa/abu_mahdi_muhandis.htm
[9] https://www.aljazeera.com/news/2021/8/19...of-taliban-rule