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Spiegelscherben Muhammad Baqir Sadrs für Deutschland

#1 von Yavuz Özoguz , 10.10.2021 11:16

Spiegelscherben Muhammad Baqir Sadrs für Deutschland

Bei meiner jüngst beendeten Pilgerreise zum weltgrößten Friedensmarsch [1] mit mehreren Millionen Teilnehmern, der Jahr für Jahr von den westlichen Medien mehr oder weniger verheimlicht wird, konnte ich dieses Jahr aufgrund der unzähligen Corona-Unsicherheiten leider keine Reisegruppe mitnehmen oder leiten. Allein mit meiner besseren Hälfte haben wir uns auf die Reise gemacht und so viele spirituelle Erlebnisse gehabt, dass wir nach und davon berichten mögen - so Gott will.

Dieses Jahr sind wir bereits einige Tage vor Marschbeginn in der heiligen Stadt Nadschaf angekommen. Das hat uns die Gelegenheit gegeben auch andere Heiligtümer in Nadschaf aufzusuchen als den Schrein von Imam Ali (a.). An einem Dienstag (21.9.2021) sind wir unmittelbar nach dem Morgengebet losgezogen; zuerst zum Wadi-us-Salam [2], dem weltgrößten Friedhof. Das unüberschaubar große Gelände ist ein echtes Phänomen. Man kann in jede Richtung schauen und es gibt Gräber bis zum Horizont. Zuerst wollten wir zu den Gräbern der Propheten Salih und Hud (a.). Doch leider waren die Tore dazu verschlossen. Wir haben aber nicht aufgegeben und sind etwas später in den historischen Teil des Wadi-us-Salam eingetreten (der neue Teil ist noch größer) und haben uns sozusagen von Hinten an die Prophetengräber herangeschlichen, zumal auf dem Friedhof kaum jemand war. Allein das hat uns erstaunt. Während der Hauptweg nach Kerbela bereits jetzt voller Menschen war, war das Gelände des Friedhofs leer. Da es zunächst keinen vernünftigen Weg gab, war Klettern über chaotisch angeordnete Gräber (jeder cm ist genutzt) angesagt, aber – Alhamdulillah (Gott sei Dank) – hatten wir gutes Schuhwerk. Am Ende wurde klar, warum die Gräber verschlossen sind. Es handelt sich um eine riesige neue Baustelle. Über den Gräbern soll ein großer Schrein entstehen. Aber wir haben uns immerhin bis zu den Gräbern durchgekämpft – Alhamdulillah (Gott sei Dank) und konnten von einiger Entfernung Gebete sprechen.



Danach sind wir stundenlang über den Friedhof marschiert. Es gibt Hochgräber und Grotten (Tiefgräber). Es gibt Jung und Alt. Uralte und neue Gräber. Und vor allem gibt es eine Ordnung, die seinesgleichen sucht. An einem sichtbaren und in absehbarer Zeit erreichbaren Rand des alten Friedhofs zog uns ein in Bau befindlicher Kuppelbau an, der wunderschön zu werden schien.

Es stellte sich heraus, dass es das Mausoleum für Großayatollah Muhammad Baqir Sadr [3] ist. Man durfte es auch schon besuchen. Er kann als einer der allergrößten Gelehrten der islamischen Welt im 20. Jh. Bezeichnet werden. Sayyid Muhammad Baqir al-Sadr war ein Vorbild der Nachahmung und einer der größten Gelehrten des Islam überhaupt. Aufgrund seiner besonderen Verbundenheit zu Imam Chomeini wurde er 1980 zusammen mit seiner Schwester Bintulhuda von Saddam ermordet. Bintulhuda ist von Saddam nicht rausgerückt worden. Daher weiß man nicht, wo sie begraben ist. Aber Muhammad Baqr Sadr bzw. das, was Saddam von ihm übrigließ, liegt hier. Als die beiden Autoren, Menschenrechtler und Wissenschaftler öffentlich ermordet wurden, hat kein westlicher Autorenverband, kein westlicher Journalist, keine westliche Frauenorganisation, keine westliche Menschenorganisation dagegen protestiert. Damals war Saddam der Vertreter westlich-imperialistischer Interessen. Er wurde in seinem Krieg gegen die noch junge Islamische Republik Iran unterstützt. Er erhielt Giftgas aus dem Westen, das er problemlos einsetzen durfte gegen den Iran und die eigenen Bevölkerung. Und er durfte ermorden, wen immer er wollte, so lange es westlichen Interessen diente. Seither sind über vier Jahrzehnte vergangen. Im Irak hat sich einiges verändert, vielleicht nicht so schnell, wie unsereins es sich wünscht, aber es hat sich verändert. Im Westen aber hat sich diesbezüglich nichts verändert. Noch immer gilt, dass die Verbrechen, die zum Wohl des Westens erfolgen, keine Verbrechen sind, und jeder Widerstand gegen den westlichen Imperailismus als Terrorismus diffamiert wird.



Mit großer Freude im Herzen und einer Aufregung traten wir ein in das Mausoleum durch einen Eingangstunnel. Es war wohl der frühen Morgenstunde zuzusprechen, dass wir die fast einzigen Besucher waren. Dennoch kam mir der Gedanke: Wird er immer noch allein gelassen? Dieser Gedanke wurde verstärkt durch Wahlplakate von Krawattentypen, die zur Wahl zum nächsten irakischen Parlament kandidierten. Im provisorischen Eingangstunnel sind wunderbare Aussprüche von Ayatollah Sadr vermerkt. Sein berühmtester Spruch „verschmelzt mit Imam Chomeini, wie er mit dem Islam verschmolzen ist“ war aber nicht dabei. Dennoch; allein die abgebildeten Sprüche waren so voller Liebe zu allen Menschen, dass sie eine geistige Revolution bewirken könnten, würden sich die Bürger danach richten.



Ganz allein in dem riesigen Saal besuchte ich erst die Grabstelle, die hier offen ist und nicht mit einem Zarih (eine Art Gitterhäuschen) [4] umrandet, wie bei allen anderen Stätten. Will Sayyid Muhammad Baqir Sadr damit ausdrücken, dass er nicht unnahbar ist? Will er uns sagen, dass wir ihn umarmen und von seinen Lehren profitieren sollen?



Voller Dankbarkeit denke ich daran, wie wundersam wir damals sein größtes Werk „Iqtisduna“ (Unsere Wirtschaft) in wesentlichen Teilen auch im Deutschen herausbringen durften [5]. Das Werk wird sicherlich nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus noch eine größere Rolle spielen als heute. So setzte ich mich in eine Ecke und bete für die vielen Verwandten, Freunde und Bekannten, die mich um ein Gebet an den heiligen Stätten ersucht hatten. Ich bete auch für jene, die es nicht getan haben und für viele Verstorbene. Vor allem bete ich für Imam Chamenei, dass Allah ihm die Kraft geben möge, die auf seinen Schultern liegende untragbar scheinende Last weiterhin für uns tragen zu können. Und ich bete, dass der Erlöser bald erscheinen möge, selbst wenn wir noch nicht hinreichend reif dafür sind.

Plötzlich geschah etwas Ungewöhnliches. Ich hörte nur ein dumpfes Splittern, als wenn eine Glühbirne geplatzt ist, nur erheblich lauter. Der einzige Mann im Raum außer mir war der Hausmeister, und der eilte herbei und schaute nach oben. Er entdeckte an der Decke eine Lücke, von der ein Stück Spiegel abgefallen und am Boden zersprungen war (siehe Pfeil auf dem Foto).



Als ich sah, wie der Hausmister zuerst versuchte die großen Stücke mit der bloßen Hand aufzunehmen, holte ich meine Tempo-Tücher raus, um ihm zu helfen. Erst in dem Moment wurde mir klar, dass ich mit den Tüchern nicht helfen sollte, die Scherben wegzuschaffen, sondern dass die Scherben ein Geschenk Sayyid Muhammad Baqr Sadrs an uns alle war, und ich sie nach Deutschland mitnehmen sollte. Als der Hausmeister mit dem Besen zurückkam und sah, wie ich die Scherben einwickelte, wusste er sofort, wofür ich das tat, und er lächelte mich an. Er heißt Husayn (wie sollte er auch sonst heißen) und beließ es nicht bei den Splittern. Er legte noch einen Gebetsstein aus dem Mausoleum dazu und war hocherfreut über den deutschen Besuch.



Willkommen im spirituellen Nadschaf! Als ich die Spiegelscherben einpacke und auch später, als ich meinen islamischen Lehrer zu dem Ereignis anrufe, mache ich mir angeregt durch das Gespräch Gedanken darüber, was uns Muhammad Baqir Sadr, oder sogar, was uns Allah, der Erhabene, damit sagen will. Sollen wir uns intensiver mit den Lehren von Muhammad Baqir Sadr beschäftigen? Sollen wir in Deutschland mehr darauf hinweisen, dass es menschliche Alternativen zum unmenschlichen Kapitalismus gibt? Müssen wir mehr Bereitschaft mitbringen verfolgt oder gar umgebracht zu werden, wenn wir die Wahrheit verkünden? Sollen die vielen Splitter die Körperteile Muhammad Baqir Sadrs wiederspiegeln im wahrsten Sinn des Wortes? Und warum sollen diese Scherben ausgerechnet nach Deutschland gebracht werden, dem treusten Diener des Kapitalismus und Zionismus auf Erden? Besteht tatsächlich in meiner Heimat Deutschland das Potential, die imperialistische Unmenschlichkeit zu überwinden, selbst wenn ich es mir heute noch nicht vorstellen kann? Fragen über Fragen, über die ich viel nachdenken muss. Eine letzte Frage aber bringt mich selbst zum Schmunzeln: Was erzähle ich ggf. einem Zollbeamten, der meinen Koffer auspackt und diese Scherben findet?

Kein Zollbeamter kontrolliert die Koffer, und so befinden sich die Scherben samt Gebetsstein heute in einer Schmuckschatulle in der geistigen Hauptstadt Deutschlands Delmenhorst.

Das Erlebnis sollte nicht der letzte spirituelle Höhepunkt der Reise bleiben, aber Weiteres in anderen Berichten – so Gott will.



Muhammad Baqirs Sadrs Schwester liegt zwar nicht bei ihm, aber direkt gegenüber gibt es eine Fatima Zahra Moschee

[1] http://www.eslam.de/begriffe/f/fussmarsc...haf_kerbela.htm
[2] http://www.eslam.de/begriffe/w/wadi-salam.htm
[3] http://www.eslam.de/begriffe/s/sadr_muhammad_baqir.htm
[4] http://www.eslam.de/begriffe/z/zarih.htm
[5] http://www.eslam.de/manuskripte/buecher/...haft_inhalt.htm


Yavuz Özoguz  
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