Sensationsnachricht aus dem Irak: Großayatollah tritt zurück
So etwas hat es in dieser Form in der islamischen Geschichte noch nicht gegeben. Ein Großayatollah aus dem Irak tritt als „Vorbild der Nachahmung“ zurück und sein öffentliches Rücktrittsschreiben dürfte als politisch-religiöses Erdbeben eingestuft werden.
Großayatollah Sayyid Kazhim al-Haeri ist 1938 in der heiligen Stadt Kerbela (Grabstätte Imam Husains) geboren und damit heute 84 Jahre alt, eigentlich gar nicht so alt für einen Großayatollah, der aufgrund seines meist sehr gesunden Lebensstils erheblich älter werden kann – so Gott will.
Er hat die klassische Ausbildung zum schiitischen Gelehrten an den Gelehrten-Seminaren in der heiligen Stadt Najaf (Grabstätte Imam Alis) durchlaufen. Als junger Gelehrter engagierte er sich intensiv gegen den Diktator Saddam und musste daher ins Exil. Er zog in die Gelehrtenstadt Qum (im Iran), wo er auch heute noch lebt und lehrt. Er ist bis zum „Vorbild der Nachahmung“ aufgestiegen.
Vorbild der Nachahmung ist im schiitischen Klerus eine Stufe, bei der die Person eine so hohe Stufe der Gelehrsamkeit erreicht hat, dass seine religiösen Rückschlüsse und Urteile auch als Vorbild für andere Menschen dienen können. Vereinfacht gesagt ist ein „Vorbild der Nachahmung“ eine Art Papst für seine Anhänger. Im Unterschied zum Katholizismus muss ein Schiit sich seinen eigenen Papst bzw. Vorbild der Nachahmung auswählen, wofür es Wahlkriterien gibt. Die beiden aktuell prominentesten Vorbilder der Nachahmung in der schiitischen Welt sind Imam Chamenei (Oberhaupt der Islamischen Republik Iran und bekannt als Revolutionsführer) und Großayatollah Sistani im Irak.
Großayatollah al-Haeri hatte sicher nicht ganz so viele Anhänger, aber unter seinen Anhängern befanden sich sehr viele Iraker und eine im Irak sehr einflussreiche Person, welche für viele Schlagzeilen in den letzten Wochen gesorgt hat: Muqtada al-Sadr, der für die Parlamentsbesetzungen im Irak verantwortlich war. Muqtada al-Sadr berief sich bei allen seinen sehr kontroversen und in letzter Zeit auch gegen Imam Chamenei gerichteten Aktionen immer wieder auf sein „Vorbild der Nachahmung“ Großayatollah al-Haeri. Mehrfach hat er erklärt, dass er den Worten und Anweisungen seines Vorbildes Folge leisten würde, und genau jenes Vorbild ist jetzt zurückgetreten!
Unabhängig davon, wie alt ein großer Gelehrter ist, gab es bisher kaum einen bekannten prominenten Fall, bei dem der Großayatollah von seiner Funktion als „Vorbild der Nachahmung“ jemals zurückgetreten ist. Doch der Rücktritt war offensichtlich nicht nur als Altergründen, wie er in einem sehr ausführlichen Rücktrittschreiben veröffentlicht [1]. Vielmehr steckt darin eine politische Botschaft, die eine Art politisches Erdbeben im Irak auslösen kann, welches die ohnehin geschwächte Position der Westlichen Welt in der Region weiter erschüttern könnte.
In dem Rücktrittsschreiben vom heutigen Tag (29.9.2022) heißt es unter anderem:
„…Ich muss meinen treuen Kindern einige letzte Worte ans Herz legen:
Erstens: Alle Gläubigen müssen dem Anführer, dem Anführer der Islamischen Revolution, Seiner Eminenz Großayatollah Sayyid Ali Chamenei (möge sein Schatten lang sein) gehorchen, denn Seine Eminenz ist der Beste und Qualifizierteste, um die Nation zu führen und um den Kampf mit ihm zu führen gegen Kräfte der Unterdrückung und Arroganz unter den aktuellen Umständen, unter denen die Kräfte des Unglaubens und des Bösen gegen den ursprünglichen mohammedanischen Islam kämpfen.
Zweitens: Ich rate meinen Kindern in unserem geliebten Irak, Folgendes zu tun:
A- Die Einheit und Harmonie untereinander zu bewahren und keinen Platz für Kolonialismus, Zionismus und ihre Agenten schaffen, indem sie das Feuer der Aufwiegelung und des Streits unter den Gläubigen entzünden, und wissen, dass ihr gemeinsamer Feind Amerika, der Zionismus und ihre Feiglinge sind, …
B - Die Befreiung des Irak von jeglicher ausländischer Besatzung und von jeglicher Präsenz von fremden Sicherheits- oder Militärkräften, insbesondere der amerikanischen Streitkräfte, die sich unter verschiedenen Vorwänden auf der Brust unseres verwundeten Irak niedergelassen haben, …
C - Ich appelliere an diejenigen, die Positionen und Verantwortungen übernehmen, ihre legitimen Aufgaben zu erfüllen, die sie dem Volk zu erfüllen versprochen haben, und sich von engstirnigen persönlichen und parteiischen Interessen fernzuhalten, die dem unterdrückten irakischen Volk Unheil zugefügt haben…
D - Gelehrte, religiöse Seminarstudenten, kulturelle Eliten und bewusste und aufrichtige Schriftsteller sollten daran arbeiten, die Menschen zu erziehen, damit sie zwischen Feind und Freund unterscheiden und die Realität ihrer Interessen erkennen können ...“
Inzwischen hat Muqtada al-Sadr sich geäußert. Er werde ab sofort abtreten, ziehe sich in die theologischen Seminare zurück und werde sich in politische Angelegenheiten nicht mehr einmischen.
Solch ein Rücktritt an dem Tag, an dem viele westliche Medien den Rücktritt des Papstes erwartete haben, kommt wirklich überraschend. Mit seinem historisch sensationellen Rücktrittsschreiben, verfolgt Großayatollah al-Haeri die Linie seines eigenen Lehrers, des von Saddam mit westlicher Unterstützung ermordeten Großayatollahs Muhammad Baqir-Sadr [2], der einstmals die Iraker aufgerufen hatte, sich mit Imam Chomeini, dem Gründer der Islamischen Republik Iran, zu verbinden.
Und der weltgrößte Friedensmarsch von Nadschaf nach Kerbela mit mehreren Millionen Teilnehmern finden in zwei Wochen seinen Höhepunkt. [3]
[1] http://www.alhaeri.org/
[2] http://www.eslam.de/begriffe/s/sadr_muhammad_baqir.htm
[3] http://www.eslam.de/begriffe/f/fussmarsc...haf_kerbela.htm