In seinen letzten beiden öffentlichen Auftritten, vom 2. und 4. Oktober 2024, hob Imam Chamenei jeweils einen Punkt besonders hervor, nämlich den Punkt der Trauer. Er unterscheidet dabei letztlich zwischen zwei Arten von Trauer, wobei eine davon untätig und depressiv, die andere aber vorantreiben und belebend ist. Der Imam selbst befindet sich in schwerer Trauer, doch was macht diese Trauer mit ihm?
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Imam Chamenei erklärte am 2. Oktober:
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Besonders ich selbst bin ernsthaft in Trauer.
Dennoch hat der Imam das Treffen mit den wissenschaftlichen Talenten an diesem Tag nicht absagen, noch verschieben lassen. Er hat es bewusst abgehalten, trotz dieser großen und frischen Trauer für ihn. Er erklärt auch den Grund dafür:
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Obwohl das derzeitige Klima im Land tatsächlich eine allgemeine Trauerstimmung ist und es sich im wahrsten Sinne des Wortes um Trauer handelt, habe ich dieses Treffen nicht verschoben. Dieses Treffen war bereits im Voraus geplant, und man hätte sagen können, dass es beispielsweise auf nächste Woche verschoben werden könnte. Das habe ich aber nicht getan. [...] Diese Versammlung trägt eine Botschaft für uns. Sie besagt, dass wir zwar in Trauer sind, aber unsere Trauer bedeutet nicht, dass wir uns in Traurigkeit und Depression zurückziehen und in einer Ecke sitzen. Unsere Trauer ist von der Art der Trauer des Herrn der Märtyrer (Frieden sei mit ihm). Sie ist lebendig und lebensspendend. Wir trauern, aber diese Trauer treibt uns zu mehr Bewegung, Fortschritt und Arbeitsfreude an. Ich möchte, dass wir diese Botschaft in unser Herz und unsere Seele eindringen lassen, sie wirklich fühlen, dass auch unsere Trauer uns voranbringen sollte.
Am 4. Oktober wiederholte Imam Chamenei bei seiner Freitagspredigt diesen Punkt und erklärte:
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Doch unser Schmerz bedeutet nicht Niedergeschlagenheit, Verzweiflung oder Unruhe, sondern ist wie unser Schmerz über den Fürsten der Märtyrer, Imam Hussein (Friede sei mit ihm), ein Schmerz, der das Leben belebt, Lehren inspiriert, Entschlossenheit entflammt und Hoffnung nährt.
Trauer, wie auch Freude, Aufregung, Liebe und viele andere Gefühle und Emotionen, sind natürlich, und doch können sie stets zwei Formen annehmen: Entweder ist es ein Gefühl, das uns unserem Schöpfer näher bringt, unsere Entschlossenheit und Sicherheit festigt, unsere Überzeugung mehrt, unseren Abstand vom Diesseits vergrößert, unsere Hoffnung vervielfacht, uns voranbringt und unsere Liebe zu Gott erweitert. Oder es ist ein Gefühl, das uns von unserem Schöpfer entfernt, Unsicherhheit in uns nährt, uns zweifeln lässt, traurig, hilflos und depressiv macht. Die erste Form der Trauer, die offensichtlich für einen Gläubigen geeignet ist, bezeichnet Imam Chamenei als „Art der Trauer des Herrn der Märtyrer“. Wir könnten diese Art der Trauer also auch als „hussainitische Trauer“ bezeichnen.
Dieser Punkt ist für die Muslime und alle Wahrheitsliebendenden von großer Wichtigkeit, insbesondere heute, da ihnen entweder das Leid in Gaza unerträglich erscheint, sie tief traurig macht, oder sie von schweren Prüfungen durch Verluste in der Familie oder des Bekanntenkreises betroffen sind, oder weil solch eine Trauer noch auf sie zukommen wird. So oder so ist es wichtig, dass diese Gefühle und Emotionen in die richtige Richtung gelenkt werden. Wie Imam Chamenei erklärt, sollen sie nämlich etwas ganz bestimmtes in uns bewirken.
Auch ein Gefühl wie Wut und Abneigung gegen die Feinde Gottes, die für den Mord an Tausenden von Menschen verantwortlich sind, ist natürlich, und doch kann auch dieses Gefühl zwei Formen annehmen: eines, das zur Liebe Gottes führt und die Menschen erweckt, belebt, aktiver werden lässt und sie hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt, und eines, das sie in die Arme des Teufels führt und sie in ihrem blinden Hass untätig macht oder, Gott bewahre, sogar hoffnungslos und dann zu falschen Handlungen führt.
Unsere Gefühle, egal um welche es sich handelt, müssen immer gerichtet sein. Sie müssen in uns die Wirkung haben, dass wir uns zu noch mehr Anstrengung, noch mehr Gottesnähe, noch mehr Aktivität für Gott angespornt und ermutigt fühlen. Sie müssen in uns Hoffnung wecken und nicht uns pessimistisch und missmutig stimmen. Prinzipiell müssen sie in uns das Gefühl erwecken, etwas selbst aktiv tun zu wollen, um Gott näher zu kommen. Es muss das Gefühl aufkommen, mit Gottes Hilfe, etwas erreichen zu können. Das ist ein Kriterium, anhand dessen man bewerten kann, welche Art von Trauer man verspürt.
Dieser Ansporn ist nämlich genau das Gegenteil von dem, was der Teufel will. Er versucht, uns passiv, inaktiv, klein, erniedrigt, hilflos, depressiv, allein, ängstlich, unsicher und tatenlos zu machen. Wenn wir Gefühle entwickeln, insbesondere bei der Trauer, bei denen wir solche Nebenerscheinungen verspüren, müssen wir uns in Acht nehmen. Eine Trauer der Art von Imam Hussain führt uns nämlich Aktivität, Aufbruch, Hoffnung und Wachsamkeit.
Das Gefühl der Trauer hebt sich dabei sogar von anderen hervor, weshalb der Imam dieses vielleicht auch gesondert mehrmals erwähnt hat. Diese Trauer, diese Tränen, dieser Schmerz wirken im Menschen sehr tief. Der Eindruck, die Berührung des Herzens ist sehr intensiv, sodass auch die Wirkung, die durch das Gefühl erzielt werden kann, umso stärker sein kann. Eine Trauer nach der Art von Imam Hussain wird einen Menschen, der aus Sehnsucht nach diesen Personen, nach ihrem Licht, nach diesen Stufen – ja, aus Sehnsucht nach Allah und aus Reue über die eigene schlechte und inaktive Situation, in die man sich selbst gebracht hat – trauert, nach vorne werfen. Er wird eine neue Entschlossenheit in sich finden können und eilen, um die Vergebung Gottes zu erlangen.
سَابِقُوا إِلَىٰ مَغْفِرَةٍ مِّن رَّبِّكُمْ
„Geht voran für Vergebung durch euren Herrn“ [Heiliger Quran, 57:21].
Trauer um die eigenen Fehler und Sünden und die damit verbundene Reue ist ein dynamischer Prozess. Es ist ein vorangehen, wie es der Quran beschreibt. Dieser Mensch ist hoffnungsvoll und fühlt sich durch seine Trauer über seine früheren Unzulänglichkeiten gestärkt, sein Leben in eine richtige Richtung lenken zu wollen, um nicht völlig mit leeren Händen zu seinem Schöpfer zurückzukehren.
So verhält es sich also auch mit der Reue. Eine Reue, die von dem Gefühl begleitet ist, dass man verloren ist und nie wieder aus seinen Sünden herauskommen wird, dass Allah einem niemals vergeben wird, und die von Verzweiflung geprägt ist, kann nicht wirklich als Umkehr zu Gott, als Reue, bezeichnet werden. Sie macht einen inaktiv und passiv und führt zu Verzweiflung und Untätigkeit. Eine Reue jedoch, bei der man um seine Unzulänglichkeiten trauert, und eine tiefe innere Sehnsucht und Hoffnung in sich weckt, es ab jetzt wieder gut zu machen, ab jetzt diese Fehler nicht mehr zu begehen, sondern nur noch Gutes zu tun, ist eine Reue, die die Entwicklung positiv beeinflussen und ihn in Richtung seines Schöpfers aktivieren wird. Er macht also wortwörtlich von sich aus einen Schritt in Richtung seines Schöpfers, motiviert durch diese Trauer.
Wir sehen also, dass diese Trauer ein Mittel ist, um eine Belebung des Menschen zu erreichen. Es ist ein Werkzeug, um ihn voranzubringen. Am 14. August sprach Imam Chamenei über dieses Verhältnis von Mitteln und Zwecken:
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Diese Maßnahmen sind Mittel zum Zweck, Werkzeuge, um ein Ergebnis zu erzielen. Wenn Sie nur einen Schraubenschlüssel haben, aber nichts damit anfangen können, oder wenn er nicht zum Lösen der Schrauben geeignet ist, dann bringt er nichts. Es muss ein Werkzeug sein, das eine Wirkung zeigt.
Es geht darum ein Ziel zu erreichen. So verhält es sich also um die Trauer, die die Ahlulbayt von uns wünschen, um ihre Tragödien und vor allem um Imam Hussain (Friede sei mit ihm) und die Geschehnisse rund um den 10. Tag des Muharram. So sehen wir, dass diejenigen, die nicht verstanden haben, wozu die Ahlulbayt uns zur Trauer ermahnt hat, seit Jahrhunderten sich selbst anstatt ihren Feind schlagen. Die Trauer ist für sie ein Selbstzweck. Sie haben einen Schraubenschlüssel, wobei es gar keine Schrauben gibt. Sie weinen darüber, nicht bei Imam Hussain dabei gewesen zu sein, vergessen aber voll und ganz, wozu dieses Opfer des Imams diente, eben dazu, damit sie ihr heute reflektieren. Ihre Trauer hat keine Auswirkung auf ihr Hier und Jetzt; es ist keine Aktivierung, keine Belebung oder Erweckung, sondern vielmehr ein Trance-Zustand in der Vergangenheit, der einen von jeglicher Aktivität fernhält. Das ist nicht die hussainitische Trauer.
Diejenigen jedoch, die diese wahre hussainitische Trauer verspürt und gefördert haben, haben es geschafft, allein durch diese Gefühle und die richtige Lenkung der Gefühle hin zu Aktivität und Umsetzung der Lehren, eine ganze Revolution zu etablieren. So kommt es, dass Imam Chomeini damals sprach: „Alles, was wir haben, haben wir durch Muharram und Safar“. Diese Revolution, aber auch die Verteidigung des Irans gegen die ganze Welt, ob Ost oder West, durch die Heilige Verteidigung, waren nur durch diese hussainitische Trauer möglich, die einen aktiviert und aufweckt. Das ist die Trauer, die notwendig ist. Sie muss etwas mit uns machen. Sie muss uns verändern. Sie muss uns beleben, aufwecken, aufstehen lassen. Solch eine Trauer „nährt Hoffnung“, selbst dann wenn es ausweglos erscheint und die ganze Welt sich gegen ein Land wendet. Solch eine Trauer um Imam Hussain, schafft in einem Stärke, ein Gefühl, alles schaffen zu können, das niemanden einen aufhalten kann.
Verlust großer Persönlichkeiten
Zu dem allgemeinen Aspekt der Trauer und dem Verlust vielleicht geliebter Menschen aus dem Bekannten- oder Familienkreis, oder auch die Trauer aus Mitleid und andere Formen, kommt auch die Trauer, beziehungsweise die Reaktion auf den Verlust von für die Umma wichtige Persönlichkeiten. Die Trauer der Leute Hussains ist hier derart, dass wenn eine große Persönlichkeit von ihnen geht, sie um den Verlust trauern und doch Gewissheit im Herzen haben, dass eine noch viel größere Persönlichkeit in dessen Fußstapfen treten wird. Das ist ein göttliches Versprechen, und es ist auch der Verlauf der islamischen Geschichte: Hamza, Salman, Malik, Ali Akbar, Abbas, – bis hin zu unserer heutigen Zeit mit den vielen Märtyrern der Heiligen Verteidigung, Imam Chomeini und so weiter. Jeder war ein Vorbild für die folgenden Generationen, und diese Linie endete nicht und wird nicht enden. Imam Chamenei erklärte diesen Punkt auch in seiner Freitagspredigt:
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„In der Islamischen Republik Iran wurden in drei Monaten des Sommers 1981 Dutzende unserer herausragenden Persönlichkeiten ermordet. Darunter befand sich eine große Persönlichkeit wie Sayyid Muhammad Beheshti, ein Präsident wie Radschai, ein Premierminister wie Bahonar, und es wurden Gelehrte wie Ayatollah Madani, Qodusi und Haschemi Nejad getötet. Jeder von ihnen war eine Stütze der Revolution auf lokaler oder nationaler Ebene, und ihr Verlust war kein leichter. Doch der Weg der Revolution wurde nicht gestoppt oder aufgehalten, sondern er beschleunigte sich.“
Jede dieser großen Persönlichkeiten ist eine Gnade Gottes an uns und doch, wird jeder zu seinem Schöpfer zurückkehren, und wie sehr sehnen sie sich doch nach der Begegnung mit ihrem Geliebten. Prinzipiell aber darf die Trauer um einen geliebten Menschen uns nicht zurückwerfen und ins Zweifeln geraten lassen. Nichts geschieht, ohne die Erlaubnis Gottes und er weiß besser, um die Dinge als wir es tun:
وَمَا كَانَ لِنَفْسٍ أَن تَمُوتَ إِلَّا بِإِذْنِ اللَّهِ كِتَابًا مُّؤَجَّلًا
„Und nicht ist es für eine Seele so gewesen, dass sie sterben würde, außer mit Erlaubnis Allahs, gemäß eines befristeten Buches.“ [Heiliger Quran, 3:145].
Einen Vers vorher spricht der Quran sogar über den Verlust großer Persönlichkeiten: Es ist das Dahinscheiden des besten aller Menschen!
وَمَا مُحَمَّدٌ إِلَّا رَسُولٌ قَدْ خَلَتْ مِن قَبْلِهِ الرُّسُلُ ۚ أَفَإِيْن مَّاتَ أَوْ قُتِلَ انقَلَبْتُمْ عَلَىٰ أَعْقَابِكُمْ ۚ وَمَن يَنقَلِبْ عَلَىٰ عَقِبَيْهِ فَلَن يَضُرَّ اللَّهَ شَيْئًا ۗ وَسَيَجْزِي اللَّهُ الشَّاكِرِينَ
„Und nicht ist Muhammad etwas anderes, außer ein Gesandter. Tatsächlich sind vor ihm die Gesandten dahingegangen. So falls er gestorben ist oder getötet worden ist, (wird es dann so sein, dass) ihr euch auf euren Fersen gewendet habt? Und wer sich auf seinen beiden Fersen wendete, so würde er Allah niemals irgend Etwas schaden. Und Allah wird den Dankenden vergelten.“ [Heiliger Quran, 3:144].
Es ist eine Einladung Gottes an uns: Wer dankbar ist, der wird sich nicht erschüttern, verunsichern und verzweifeln lassen durch scheinbare Verluste, sondern es wird ihn nur auf diesem Weg bestärken:
وَكَأَيِّن مِّن نَّبِيٍّ قَاتَلَ مَعَهُ رِبِّيُّونَ كَثِيرٌ فَمَا وَهَنُوا لِمَا أَصَابَهُمْ فِي سَبِيلِ اللَّهِ وَمَا ضَعُفُوا وَمَا اسْتَكَانُوا ۗ وَاللَّهُ يُحِبُّ الصَّابِرِينَ
„Und so manchen Propheten gab es, mit dem viele Scharen gekämpft haben. Sie erlahmten nicht wegen dessen, was sie auf dem Weg Gottes traf, und sie wurden nicht schwach, und sie gaben nicht nach. Und Gott liebt die Standhaften.“ [Heiliger Quran, 3:146]