... "Man darf sich deshalb die Frage stellen, warum die Politik und die ihr unterstellte RKI-Führung die Öffentlichkeit - und letztlich auch sich selbst - bewusst über den tatsächlichen Epidemieverlauf täuschen. Desweiteren darf oder muss man sich fragen, warum sie sich seit zehn Monaten weigern, Daten so zu ermitteln, dass der Epidemieverlauf auf wissenschaftlich haltbare Weise verfolgt werden kann."
Zitat
07.03.2021
Inzidenzinflation
Covid-19 Die unkontrollierte Einführung von Schnelltests, ohne dass vorher repräsentative Testserien etabliert sind, führt in einen Blindflug.
Politiker und viele Journalisten versuchen uns weiszumachen, dass die massive Nutzung von Schnelltests in der Bevölkerung zu einer besseren Kontrolle des Epidemieverlaufs führen wird. Ich diskutiere hier, welche Konsequenzen tatsächlich zu erwarten sind und stelle am Schluss die Frage, warum die Schnelltests tatsächlich unters Volk gebracht werden.
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Anstieg der gefühlten Inzidenz
Was vom RKI als Inzidenz bezeichnet und täglich in den Medien diskutiert wird, ist keine. Es ist die Zahl positiver PCR-Tests über eine Woche normiert auf die Bevölkerungszahl, aber nicht auf die Zahl der Tests. Daraus lässt sich die tatsächliche Inzidenz deshalb nicht ermitteln, weil die Auswahl der getesteten Personen nicht repräsentativ erfolgt, sondern nach anderen Gesichtspunkten. Selbstverständlich ist es legitim und in gewissem Ausmaß sogar notwendig, einen großen Teil der Testkapazität nach anderen Gesichtspunkten zu nutzen. Nicht legitim ist es, die Zahl der dabei auftretenden positiven Testergebnisse als Maß für die Inzidenz zu betrachten. Das ist, statistisch gesehen, Unsinn und der zeitliche Verlauf, der so ermittelten Zahl ist für die Steuerung unbrauchbar. Dieser zeitliche Verlauf wird nicht nur durch eine Änderung in der Gesamtzahl der Tests beeinflusst, sondern auch durch zeitliche Veränderungen in der Auswahl der getesteten Personen aus der Gesamtbevölkerung. Bisher gab es zwei Zeiträume, in denen die wöchentliche Testzahl stark erhöht wurde und der Zeitverlauf der behaupteten Inzidenz dadurch verfälscht wurde. Es handelte sich um die ersten Wochen der Epidemie und um eine Periode etwa Mitte Juni bis Mitte Juli 2020. In beiden Fällen wurden die steigenden Zahlen durch starke Propaganda in den Medien begleitet und als Anlass zur Einführung restriktiver Maßnahmen benutzt. Diese in den Medien diskutierte und von Politikern zur Argumentation verwendete Inzidenz nenne ich im Folgenden die politische Inzidenz. Sie ist nur eine gefühlte Inzidenz und genau das ist auch ihr Kern.
Wir befinden uns unmittelbar vor dem dritten unrealistischen Anstieg der politischen Inzidenz. Er ist ernster als die vorhergehenden, weil der Mechanismus der Verzerrung der Daten komplexer ist. Zunächst einmal wird die politische Inzidenz durch eine massive Ausweitung der Tests erhöht, wie schon in den beiden vorherigen Episoden. Dieser Teil des Effekts kommt von den Schnelltests, die von geschultem Personal in Arztpraxen oder Testzentren durchgeführt werden, wobei die Ergebnisse unmittelbar in die Statistik eingehen. Der Effekt lässt sich nicht einfach durch Normierung auf die Zahl der Tests korrigieren, weil die massive Ausweitung die Auswahl der getesteten Personen aus der Grundgesamtheit verändern wird.
Der zweite Teil des Effekts kommt von den Personen, die sich beim Discounter für 5 Euro/Test Schnelltests gekauft haben oder die vom Staat scheinbar kostenlos zur Verfügung gestellten Schnelltests benutzen. Diese werden sich zum größten Teil bei einem positiven Selbsttest – und nur dann – von geschultem Personal noch einmal testen lassen. Falls sich das Ergebnis bestätigt, gehen diese positiven Tests in die Statistik ein, die negativen Ersttests aber nicht. Eine Normierung auf die Zahl der Gesamttests wird so unmöglich. Die Auswahl der getesteten Personen aus der Grundgesamtheit verschiebt sich zugunsten infizierter Personen. Diese Verschiebung erfolgt völlig unkontrolliert, so dass keine Möglichkeit einer Korrektur besteht.
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Gründe für den Unsinn
Nichts von dem, was ich hier dargelegt habe, ist unbekannt gewesen. Jeder, der eine Basiskompetenz für die Einschätzung des Epidemieverlaufs hat, weiß das. Zwar kann man über die Kompetenz des RKI-Chefs Lothar Wieler nur spekulieren. Dass seine öffentlichen Äußerungen die Anwesenheit einer solchen zumeist nicht belegen, ist allerdings nicht hinreichend, um die Abwesenheit einer solchen zu beweisen. Was die Bundeskanzlerin betrifft, so hat sie eine Doktorarbeit über die Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten chemischer Reaktionen auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden geschrieben. Es ging da also um die Vorhersage des Zeitverlaufs bestimmter Prozesse und die dazu nötige Statistik. Dass Angela Merkel nicht einschätzen kann, was die Inzidenz wirklich ist und wie man sie korrekt abschätzen kann, ist keine plausible Annahme.
Man darf sich deshalb die Frage stellen, warum die Politik und die ihr unterstellte RKI-Führung die Öffentlichkeit - und letztlich auch sich selbst - bewusst über den tatsächlichen Epidemieverlauf täuschen. Desweiteren darf oder muss man sich fragen, warum sie sich seit zehn Monaten weigern, Daten so zu ermitteln, dass der Epidemieverlauf auf wissenschaftlich haltbare Weise verfolgt werden kann. Aus meiner Sicht gibt es keine andere Erklärung als diejenige, dass sie aus anderen Interessen handeln als demjenigen an der bestmöglichen Antwort auf die Epidemie.
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https://www.freitag.de/autoren/gunnar-je...zidenzinflation